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Sperma (Basel, 24.6.94, später Nachmittag)

Text: polysem
Als wir den Bahnhof erreichen, sind unsere Kleider immer noch feucht und kleben unangenehm auf der Haut.



Das Gewitter am Mittag schien nur auf uns gewartet zu haben. Es kam mir so vor, als hätte der Platzregen genau in jenem Moment eingesetzt, als Hanko den Hebel zum Öffnen der Zugtür nach unten gedrückt hatte. Als hätten die Wolken die Regenmassen unter großer Anstrengung in ihrem Inneren gehalten und abgewartet, bis wir die Regionalbahn verlassen wollten. Als hätten sie die Unmengen Flüssigkeit kaum noch halten können und davon bewegungsunfähig abwartend mit ihren übervollen Wasserbäuchen am Horizont gehangen. Als wir in Basel ankamen, konnten sie endlich den Druck ablassen und das angesammelte Wasser begleitet vom ersten Donner in Reißbächen aus ihrem Inneren stürzen lassen. Dazu peitschte ein kräftiger Wind über die Stadt hinweg, so dass es aussichtslos erschien, auf die Schnelle einen Regenschutz zu besorgen. Also steuerten wir den gesamten Nachmittag über mit feuchtem Gegenwind in unseren Gesichtern durch die Straßen und konnten sicher sein, dass dieser Ausflug von uns in naher Zukunft mit einer Erkältung bezahlt werden würde. Wir kauften neue Kleidungsstücke und beschlossen, diese gegen unsere durchnässten Textilien zu tauschen, sobald das Wetter sich beruhigt hätte. Da uns die Witterung diesen Gefallen jedoch nicht zu erbringen gedachte, fassten wir den Plan, uns erst kurz vor der Rückfahrt im Bahnhofsgebäude umzuziehen.



An der Zollstation im Bahnhof fragt der deutsche Beamte, ob wir zollpflichtige Artikel mit uns führen würden. Wir geben uns betont naiv, schütteln unschuldig die Köpfe und sehen ihn mit möglichst großen Rehaugen an. Er betrachtet uns skeptisch und lässt seinen Blick über die Unmengen von Einkaufstüten gleiten, die wir in den Händen halten. Ob wir wüssten, dass lediglich die Überführung von Waren bis zu einem Wert von 100 Mark pro Person zollfrei sei, fragt er. Wir lachen gespielt pikiert und behaupten, dass wir so viel Geld noch nicht einmal besitzen würden – eine Aussage, die nach dem exzessiven Einkauf in der Schweiz durchaus der Wahrheit entspricht. Das laienhafte Schauspiel wirkt zu unserem Erstaunen überzeugend auf den Zollbeamten, denn er winkt uns ohne weitere Fragen durch. Glücklicherweise entgehen ihm so die beiden Flaschen Absinth, die wir, sechzehn und siebzehn Jahre alt, nicht einmal hätten erwerben dürfen.













Hinter der Zollstation biegen wir rechts in einen schummrigen Gang ein, in dem sich die Toiletten befinden. Aus den gilbgelb leuchtenden Türöffnungen dringt ein unangenehmer Geruch, der wie eine Art olfaktorische Urinstein-Mauer einige Meter vor den Sanitärräumen im Gang zu stehen scheint. Wir halten die Luft an, durchbrechen den Geruchswall und atmen ab sofort nur noch durch den Mund ein.

Ich wähle die Kabine rechts, Hanko die links außen. Die in der Mitte ist bereits besetzt. In der Toilettenzelle kann ich mich aufgrund der beschränkten Raummaße und wegen des Volumens der Unmengen von mitgebrachtem Gepäck kaum bewegen. Ungeschickt versuche ich, die Tüten an den Kleiderhaken und den Türgriff zu hängen. Kurze Zeit später liegen so gut wie alle mitgebrachten Utensilien am Boden, mit dem ich sie eigentlich gerade nicht in Kontakt bringen wollte. Ich öffne leise fluchend den Gürtel, knöpfe das nasse Hemd und die durchweichte Hose auf und versuche, den rechten Schuh mit Hilfe des linken Fußes abzustreifen. Da ich so rasch wie möglich die enge, schmuddelig wirkende Kabine wieder verlassen möchte, beginne ich zu hetzen. Mir wird warm, die Wangen fühlen sich rot und glühend an. Weil meine Schuhsohle noch feucht sind, bietet sie nicht das Maß an Bodenhaftung, das ich angesichts meiner körperlichen Aktion benötigen würde. Ich spüre, wie mein rechter Fuß, auf dem ich immer noch einbeinig stehe, langsam nach vorne rutscht. Daher lasse ich von dem Versuch ab, den Schuh nur mit Hilfe des anderen Fußes abstreifen zu wollen, und stelle diesen wieder auf den Boden. Ich stelle ihn jedoch nicht auf den Boden der Toilette, sondern auf einer meiner Tüten ab. Da der Abstand zwischen meinen Beinen bedenklich groß für einen sicheren Stand ist, sich beide Füße zudem wegen des jeweils unsicheren Untergrunds weiterhin voneinander entfernen, kann ich den Sturz nicht mehr aufhalten und stürze rücklings zu Boden.

Verdammt, denke ich.



Wie ein Stein falle ich beinahe senkrecht zu Boden und schlage glücklicherweise nicht mit dem Hinterkopf auf dem Klosett auf. Stattdessen sitze ich halb entkleidet in klammen Textilien am Boden einer Schweizer Herrentoilette. Ich stütze mich ab, um wieder auf die Beine zu kommen, und spüre etwas Feuchtes sowie unangenehm Weiches an der Innenseite meiner linken Hand. Angeekelt ziehe ich sie im Reflex zu mir und sehe nach, in was ich gefasst habe. Eine Welle der Übelkeit schwappt über mich, als ich dort ein aufgeschlagenes Pornoheft liegen sehe. Zwischen den kontrastarmen Bildern, die nackte, schweinsfarbene und ineinander verkeilte Menschen mit unvorteilhaften 80er-Jahre-Frisuren zeigen, befindet ein nahezu transparenter, feuchter Fleck, der klebrig im Neonlicht schimmert und von milchigen Fäden durchzogen wird. Ich halte meine Hand vor die Augen, drehe sie angeekelt und rieche dann vorsichtig an den Fingern. Das Sperma verwandelt sich hierdurch jedoch leider auch nicht in Zuckerwatte und bleibt das, was es ist: Ejakulat, aufgenommen von einem Sexheft in einem Herren-WC, das leider genau so riecht, wie es aussieht.

Ich taste mit der rechten Hand nach dem Toilettenpapierhalter, bekomme das Ende der Rolle zu fassen, reiße großzügig ein bis zwei Meter ab und reinige damit die Finger.



Zwanzig Minuten später sitzen Hanko und ich frisch bekleidet im Zug. Er mustert mich mit leicht zusammengekniffenen Augen und hochgezogener rechter Augenbraue. Am Kragen seines neuen Hemds ist noch das Preisetikett zu sehen. Sein skeptischer Blick verrät mir, dass er darüber nachdenkt, weshalb meine Laune mit einem Mal so schlecht sei.

„Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragt er mehr neugierig als besorgt.

„Was soll denn nicht in Ordnung sein“, presse ich hervor. Von dem Vorfall in der Toilette werde ich ihm erst Jahre später berichten. Meine linke Hand liegt in sicherer Entfernung ungelenk verkrampft auf dem Sitzpolster.

„Du bist plötzlich so bissig.“

„Es war eben ein anstrengender Tag. Außerdem glaube ich, dass ich krank werde“, entgegne ich.

Mir kommt es so vor, als würde es im Abteil nach Sperma riechen. Als wäre meine linke Hand noch immer Ursache dieses Geruchs, obwohl ich sie nach der Trockennotreinigung in der Kabine mit viel Seife und mehrfach am Waschbecken geputzt habe. Ich frage mich, ob Hanko dies auch wahrnimmt.

„Bei dem Wetter kann man sich schnell was einfangen“, sagt Hanko und beendet nach dieser Phrase die unergiebige Unterhaltung, indem er lange gähnt und kurz darauf die Augen schließt.



Ja, denke ich grimmig, man kann sich in der Tat schnell etwas einfangen. Dass sich dreizehn Jahre später in dieser Toilette und den sie umgebenden Bahnhof die wohl verstörendste Episode meines Lebens ereignen wird, ahne ich zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht.



Abyssal



Everything where it belongs (Stuttgart, 26.3.07, 20.30 Uhr)



Speichel (Hanau, 26.9.96, früher Nachmittag)



Jesus liebt auch dich (Darmstadt, 13.2.06, 11 Uhr)



Fettablagerungen (ICE, 26.3.07, ca. 23 Uhr)



Sperma (Basel, 24.6.94, später Nachmittag)



At the Heart of it all (Basel, 27.3.07, Nacht)



Der beste Moment in deinem Leben (Basel, 7.4.07, ca. 1 Uhr)

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