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Das Krallen-Piercing

Text: Sestra
Es war einmal eine Prinzessin, die hieß Prinzessin Sestra, aber sie wurde von allen nur Prinzessin Schwermut genannt und dass sie einmal war, stimmt auch nicht richtig, höchstens einmalig, weil sie nämlich sieben Leben hatte.



Dass sie sieben Leben hatte, war ihr manchmal etwas zu umständlich, denn sie wusste zum Beispiel nicht, ob sie, nachdem sie siebenmal aufgestanden war, eine Woche hinter sich gebracht hatte oder einen Tag, an dem jedes ihrer Leben einmal aufgestanden war. Eigentlich aber kümmerte sie sich nicht um solche Dinge wie Aufstehen oder Zeit, denn sie schlief in einem Bett aus Rosenquarz.



Sie hatte also Leben im Überfluss und sich selber manchmal satt, weil sie sich eben nicht genügen konnte, auch nicht im Plural. Deswegen hatte sie sieben Männer und zu jedem konnte sie sagen, du bist mein Leben. Doch halt! Nach der Geschichte mit Herrn Auster bzw. dem Pilzprinz hatten sich die Dinge ein wenig geändert: Prinzessin Sestra hatte jetzt sechs Leben plus ein selbiges in Perlenform konserviertes sowie acht Männer.



Eines Tages trug es sich zu, dass sie in ihrer Kutsche zu einem Maskenball unterwegs waren: Sie, der eben befreite und keineswegs entmannte Pilzprinz und Graf Rozz, ein kleiner verweichlichter Jüngling, der ihrem nun perlenhaften Ich beschieden war und den Prinzessin Sestra ja eigentlich hatte loswerden wollen. Besagter Graf war ein schnöselhafter Träumer, der Prinzessin Schwermut schon seit längerem auf den Prinzessinnenkeks ging und der nur noch bei ihr bleiben durfte, weil sich Prinzessinnen - wie bereits erwähnt - nur in einem langen Procedere von ihren Gespielen trennen können - und weil er für ihre Karriere einmal hätte nützlich sein können, denn sein Vater besaß einen Märchenbuchverlag. Ja, auch Prinzessinnen sind berechnend und wählen ihre Männer nicht unbedingt danach aus, dass sie gute Liebhaber sind. Sie können sich auch durchaus damit zufrieden geben, wenn neben ihnen im Bett ein gutes Buch liegt.



Prinzessin Sestra steuerte die Kutsche natürlich selbst, denn von Pferdestärken verstand sie mehr als jeder andere. Relativ gemächlich fuhren sie des nächtens auf einer mit Kopfsteinen bepflasterten Allee dahin. Die Sterne rauschten sanft und die noch vorhandenen Blätter an den schweren Buchenästen klirrten dazu leise eine frostige Melodie. Auf einmal schien die Geschichte zu erstarren, denn etwas dunkles, Mächtiges breitete sich über Buchstaben und Satzzeichen aus.



Ein riesiger Schatten tauchte vor ihnen auf. Nur zwei kleine Augenpunkte durchflimmerten die dunkle Kälte. Sie hatten etwas unendliches Trauriges im Blick. In Prinzessin Schwermut kroch eine schreckliche Gewissheit nach oben, zu langsam, um die Kutsche noch rechtzeitig zum Stehen zu bringen. Ja. Es musste sich um eine der legendären postmodernen Riesenfledermäuse handeln, die nur eins im Sinne hatten: den Suizid. Vor hundert Jahren noch hatte es viele von ihnen gegeben. Man sah sie überall: Aufgespießt auf Kirchturmspitzen, mit dem Kopf nach oben an einer Brücke hängend, die Flederarme aufgeschlitzt und mit schwarzem Blut verkrustet. Doch heute waren diese großartigen dekadenten Kumpanen selten geworden--- Ein klackerndes Geräusch. Und die schwarze Gestalt knallte an die Kutschenscheibe, welche kurzerhand zerbarst. Der Aufprall war so heftig, dass der Pilzprinz schrecklich darüber erschrak, sich augenblicklich wieder in einen giftigen Strunk verwandelte und justament in das weit geöffnete Maul des Jünglings Rozz flog. Nun waren beide mausetot und es herrschte Stille.



Nur schweres Fledermausatmen war zu vernehmen. Auf einmal erhob sich eine dunkle Stimme:



„Im Laufe der Jahre ist die Bedeutung der einzelnen Worte geschwunden. Die Worte haben sich hinter den Sätzen verschanzt und sind zu stummen Sklaven von Satzzeichen geworden. Der Zauber des ausgesprochenen Wortes ist einem papiernen, recyclebaren Bannkreis gewichen, das „Ich“ ging an Sätzen wie „Ich bin nicht schuld“ oder „Ich ist ein anderer“ zugrunde. Und konnte sich nicht mehr an seinen eigenen Namen erinnern, als es, schon längst verschieden, auf einer Buchseite aufgebahrt lag.

Aber auch das ausgesprochene Wort, sofern nicht niedergeschrieben, fristet ein zombieskes Dasein, das immer auf Wiederholung und Wiederholbarkeit beruht.

Die Bedeutung erkennt sich selbst, ein kleiner Funke, oder gar ein Stern, der zwar flitternd strahlt, wenn du ihn erblickst, aber dennoch tot ist.

Nicht in den Sätzen schlummert die Bedeutung. Die Bedeutung ist temporäres Monument im gebundenen Buch, das, ungelesen, zum Fetisch verkommt.

Sieh nur die vielen reglosen und stummen Bücherrücken im Regal [Anmerkung: Prinzessin Schwermut hatte selbstverständlich ein gut sortiertes Bücherregal in ihrer Kutsche], sie sind Zeichen deines herannahenden Todes.

Deswegen hat der Fluch etwas Magisches, Unwiederbringliches. Der Fluch steckt in dir.“



Die roten Fledermausaugen flackerten noch einmal auf, bevor sie erloschen und darüber wurde die Prinzessin so traurig wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie weinte kalte Tränen und bedauerte die ganze beschissene Welt, weil sie so ein erbärmliches Schicksal hatte. Über ihr kaltes Schluchzen legte sich jedoch alsbald ein Gefühl samtener Wärme. Da erst bemerkte sie, dass sie von einer Fledermauskralle mitten ins Herz getroffen worden war.



Hierzu muss man anmerken, dass ausgerechnet dies die einzige Möglichkeit für Riesenfledermäuse war, sich fortzupflanzen. Wobei „fortpflanzen“ auch nicht stimmt, weil die traurigen Gesellen sich auf ähnliche Weise verbreiteten wie Vampire und das jeweils beherzkrallte Wesen schließlich selbst zur suizidalen Kreatur in Schwarz mutierte. Man muss ebenso noch anfügen, dass vor Unzeiten einmal aus zahllosen Germanisten und Pseudoliteraten solche Fledermäuse wurden. Das hatte damals dazu geführt, dass lebendige Germanisten nie Jobprobleme hatten, weil es ja nur noch so wenige von ihnen gab. Aber das ist schon lange her).



So kam es, dass sich Prinzessin Sestra noch just in dieser Nacht verwandelte. Die Flügel standen ihr gut und auch die roten anstelle der blauen Augen gefielen ihr besser. Und das beste war: Sie schlief nun stets mit dem Kopf nach unten.



Und was noch viel besser war: Wenn sie von nun an eine Gothic-Party besuchte, war sie immer exklusiv gekleidet und konnte mit ihren Krallen jederzeit und nach Belieben den dort herumstolzierenden Braunhemden- und Kragenspiegelträgern zu einem würdigen Ableben verhelfen.



Da sie auch schon vor ihrer Verwandlung so unendlich traurig gewesen war, dachte sie gar nicht daran, sich von ihrer neuen Existenz nach Flederart zu trennen. Ohnehin fand sie im Nachhinein, dass die Abschiedsrede des Fledermannes mehr als pseudophilosophisch gewesen war. Und so kam es, dass Prinzessin Sestra ein Leben in Perlenform und eines als Fledermaus gegeben war. Dass man als Flederfrau keinen Mann braucht, ist auch klar: Und so trieb Prinzessin Sestra ihrem Mann Nr.6 eine ihrer Krallen ins Herz, worauf auch er, studierter Germanist, zur Maus mutierte und ob einer bislang ungekannten Traurigkeit und der Neigung, zu viel und zu schlecht zu philosophieren, den Freitod wählte.

Prinzessin Schwermut indessen hing nun teilweise von der Decke, ruhte teilweise als kleine Perle unter einer ihrer sieben Matratzen und fragte sich, kurz vor dem Einschlafen, was ihren fünf verbleibenden Rest-Ichs wohl noch so alles zustoßen würde.



Seit jenem Abend trällerte die Prinzessin bisweilen ganz gerne dieses selbst erfundene Lied:



Wenn dein Tod mir fast gefällt

Weil er mich am Leben hält

Vermag ich schöner nicht zu scheitern

Wenn dein Leben ist vergällt

In der bedeutungsarmen Welt

Lass dein Bewusstsein sich erweitern –

Sing den Batcave Blues …



Wenn du Bedeutung fast erringst

Und Sätze um Bedeutung bringst

Wenn dich das Wort im Satz verneint

Hat eine Maus um dich geweint

Und singt den Batcave-Blues ...



Wenn du verloren hast, was war

Des Staben Wort ein Buch gebar

Dann sing den ...












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