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Fern von Intelligenz, nah an der Vernunft - Die wirkliche Weisheit

Text: mur
Textgebundene Erörterung

Otto Friedrich Bollnow – Die Weisheit



Fern von Intelligenz, nah an der Vernunft – Die wirkliche Weisheit



Ein alter, graubärtiger Mann. Der Älteste im Dorf, an den sich die Bewohner wenden, um Ratschläge zu erhalten, da er wohl sämtliche Schwierigkeiten bereits durchlebt hat und daraus Unmengen von Erfahrungen sammeln konnte. Einer, der aus eigenen Schlussfolgerungen intelligent geworden ist. So stellen wir uns einen Weisen vor.

Otto Friedrich Bollnow definiert Weisheit anhand der Unterschiede zur Klugheit. In seinem ethischen Essay „Die Weisheit“, welche er 1958 verfasste, stellt er das Weise-Sein in unmittelbarer Verbindung mit der Erkenntnis, welche man nach Bollnow nur aus den Tiefen und Höhen des Lebens ziehen kann. Er setzt also das gelebte Leben voraus.

Bollnow beginnt seinen Text mit einer gewagten Behauptung, deren Bedeutung durch die enthaltenden Alliteration verstärkt wird: „Weise wagt heute kaum einer mehr zu sein.“ (Z.1)

Richtig ist es, dass die Eigenschaft, weise zu sein, auch heute kaum jemandem zugesprochen wird, zumal ältere Menschen in der heutigen Gesellschaft ohnehin wenig gelten.

Aber ist es nicht etwas vorschnell, Weisheit vom Alter abhängig zu machen oder liegt das an der jeweiligen Definition von Weisheit?

Bollnow erklärt Weisheit mit Vorraussetzungen: „Zur Weisheit gehört eine lange und reiche Erfahrung“ (Z.16) und „Weisheit ist […] eine Tugend des Alters“ (Z.4f.). In verschiedenen Lexika wird der Begriff mit Reife und Erfahrung erklärt, das Alter steht außen vor.

Muss man alt sein, um weise zu sein? Kann Weisheit ohne viele gelebte Jahrzehnte nicht existieren? Oder ist Weisheit vielleicht doch nur eine Einstellung, die man durch geistliche Reife erlangen kann?

Um die Abhängigkeit der Weisheit von dem (möglichst schon lang gelebten) Leben zu machen, bezeichnet Bollnow sie als „Lebensweisheit“ (Z.8) und stellt sie der ähnlich klingenden „Lebensklugheit“ (Z.9) gegenüber. Substantive wie „Weisheit“, „Tugend“, „Lebensbeherrschung“ und „Güte des Herzens“ tauchen immer wieder in der Darlegung auf und werden variiert. Während der Kluge „bloߓ den Intellektuellen darstellt, welcher sich mit seinem angereicherten Wissen das Leben erleichtert, bezieht der wirklich Weise seine Erfahrungen auf Situationen anderer Menschen und hilft dann mit weisen Ratschlägen, die auf psychologischem Wissen beruhen. Dazu muss er einen objektiven Blick bewahren, er muss versuchen, „die Dinge von einer „höheren Warte“ zu sehen“ (Z.13), so beschreibt es Bollnow mit einer missverständlichen Metapher, denn es geht nicht um das Niveau, sondern um die Objektivität, mit der man sich einen Überblick verschaffen sollte, um dann Problemen „gelassen entgegenzusehen“(Z.15), da man dadurch weitsichtiger und vorrausschauender wird. Jedoch ist der wirklich Weise nicht bestrebt, noch Großes zu erreichen, er hat schon eine Menge erlebt und kennt bereits viele allgemeine Situationsmöglichkeiten des Lebens. Der „ungestüme“ Jugendliche dagegen ist noch nicht „abgeklärt“ (Z.13f) und hangelt sich von Abenteuer zu Abenteuer, damit er besonders viele Erfahrungen sammelt.

Ein weiterer Unterschied des Klugen zum Weisen findet sich nach Bollnow in der Art der Ratschläge. Beide erteilen sie, aber der Weise gibt nicht plausibel vor, was zu tun ist, sondern fragt, warum man es tun sollte und wie es überhaupt dazu kam. Wenn man seine Großmutter fragen würde, wie man sich in einer Konfliktsituation mit der eigenen Mutter verhalten soll, würde sie zu allererst fragen, ob der Streit von Mutter und Tochter überhaupt nötig sei und würde die allgemeinen Fakten klären: „Es ist deine Mutter und ihre Anweisungen sollen dich nicht persönlich verletzen.“ Der Weise, der selbst immer versucht, Abstand zu jeglicher Situation zu haben, gibt seinen Ratsuchenden die Möglichkeit, selber auf Distanz zu gehen und die Situation einmal nicht subjektiv zu betrachten. Der Weise konzentriert sich nicht auf den „einzelnen Fall“ (Z.34), sondern beschäftigt sich mit dem Allgemeinen. Hier findet man eine Parallele zur Aufklärung: Die Aufgeklärten konnten sich erst dann aufgeklärt nennen, wenn sie imstande waren, einen Überblick über die wahren Verhältnisse zu haben und die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Ein Weiser ist ein Aufgeklärter, der die Hintergründe im Leben erkennt und mehr sieht als die anderen, die „nur“ Klugen, welche ausschließlich im Bereich ihres eigenen Lebens ausreichend sehen und agieren, aber nicht über die Grenzen hinausschauen können. Ihnen fehlt die Fähigkeit, aus dem Ich herauszugehen und mehr zu sehen. Ein kluger, junger Arzt formuliert seine Ratschläge mit Hilfe seines medizinischen Fachwissens, er ist intelligent, jedoch nicht weise. Doch wie kann ein intellektueller, junger Erwachsener weise werden? Indem er altert? Oder indem er sein Handeln vollständig von jugendlichen Eigenschaften „reinigt“?

Bollnow unterscheidet zu sehr zwischen Wahrheit und Klugheit, er verändert die Begriffe zu seinen Gunsten, obwohl sie eigentlich nur als Synonym betrachtet werden könnten, doch er argumentiert auch weiterhin anhand dieser persönlichen Einteilung.

Die Jugend billigt Bollnow lediglich Klugheit zu und unterstellt ihr, dass sie gegen die Vernunft in „irrationalen Bewegungen“ (Z.3) handelt. Jugendliche handeln eher bevor sie denken und neigen zu voreiligen sowie impulsiven Entschlüssen, sie handeln noch für sich, weil ihre mangelnden Erfahrungen nicht ausreichen, sich von sich selbst zu distanzieren.

Deswegen bittet man immer um Rat, wenn man es selbst nicht schafft, über mögliche eigene Aktionen bzw. Reaktionen zu entscheiden, weil man so sehr auf sich selbst und die Folgen für die eigene Person konzentriert ist. Sobald man jemanden anderen um seine Position bittet, erfährt man eine äußere, neutrale Sichtweise auf das Problem. Jedoch der Weise wird niemals neutral sein, da seine Meinung auf „tiefere[r] sittliche[r] Verantwortung“ (Z. 39) beruht.

Möglicherweise wagt kaum einer mehr weise zu sein, weil er sich nicht bewusst ist, dass es noch etwas höheres als reine Intelligenz gibt. Schließlich reicht Allgemeinwissen kombiniert mit etwas Spezialwissen und sozialer Kompetenz oft im Leben eines Durchschnittsmenschen aus, sogar fast auch im Leben eines Intellektuellen. Wo findet man also Weise?

In der Bibel erhält man Hinweise auf die Existenz der Weisheit. So zum Beispiel im Alten Testament im Hiob 28, 28, wo Gott zu den Menschen sprach: „Siehe, die Furcht des Herrn, das ist Weisheit, und meiden das Böse, das ist Einsicht.“ Oder in den Sprüchen 4, 7: „Denn der Weisheit Anfang ist: Erwirb Weisheit und erwirb Einsicht mit allem, was du hast“. Weisheit scheint als ein Ziel, das dem Denken und Handeln Vollkommenheit schenkt. Ein Weiser ist erst weise, wenn er seine Eigenschaften so gezielt einsetzt, dass er nur positive Auswirkungen auf seine Umwelt hat. Er muss Güte, Verstand, Freundlichkeit und Selbstkritik zeigen. Ein kluger Mensch, welcher jedoch hasst und neidisch ist, kann niemals weise werden. Auch beim „Kategorischen Imperativ“ von Immanuel Kant („Handle so, dass die Maxime deines Willens zugleich das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“) werden die Menschen dazu aufgefordert, ihr Handeln bewusst zu tun und vor allem darüber nachzudenken, was geschehen würde, wenn alle auf die Weise handeln würden.

Daraus folgt, dass Weisheit nur mit der Güte des Herzens gepaart (vgl. Z.22ff.) existieren kann.

Friedrich Bollnow ist zum Zeitpunkt des Schreibens 55 Jahre alt, wie mein Vater im Moment auch. Ich billige meinem Vater eine große Lebensklugheit und -erfahrung zu, aber würde ihn nie als weise bezeichnen. Denn der Begriff ist im Alltagswortschatz 2007 kaum noch enthalten und es ist unklar, welche Bedeutung „Weisheit“ im allgemeinen Wortschatz von 1958 hatte. Man kann jedoch schlussfolgern, dass Weisheit nicht von der reinen Intelligenz abhängt, sondern dass es eine Auszeichnung für jene ist, die bedacht handeln und pauschal als „gut“ bezeichnet werden könnten.

Der Autor verwendet eine unpersönliche Ausdruckweise, indem er sich vorwiegend des unpersönlichen Pronomens „man“ und des Subjekts „es“ bedient. Auffällig sind weiterhin in Anführungszeichen gesetzte Wörter und Wortgruppen, wie z.B. „höheren Warte“, „abgeklärt“, „weise Lehren“ und „kluge Ratschläge“, damit möchte er scheinbar ihm entgegengehaltene Argumente eines unsichtbaren Gesprächspartners aufgreifen und die Formulierungen ein wenig in Frage stellen.

Die Darlegung Bollnows lässt freien Spielraum für die Interpretation des Lesers, da er zwar eigene Gedanken zu fest gelegten Fakten verwandelt, aber sie nicht ausreichend beweist und der Leser somit gezwungen wird, weiter zu denken und weiter zu recherchieren, um den Begriff „Weisheit“ vollständig für sich zu klären und am Ende zu schlussfolgern, dass es ein Trugschluss ist, einen Intelligenten als weise zu bezeichnen und ein Muss, einen Vernünftigen so zu nennen.


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