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Darf ich dich begleiten?

Text: Dafnah
Hallo, einen wunderschönen guten Tag, liebe Leserin oder lieber Leser,

mein Name ist Hemianopsie, vom Griechischem hemi „halb“, a „nicht“ und ops „sehen“, Halbseitenblindheit also. Aber das wird gerne falsch verstanden, die meisten Menschen gehen davon aus, dass dann ein Auge nichts sieht, stimmt nicht ganz. Und deswegen wollte ich dich, liebe Leserin oder lieber Leser gerne fragen, ob ich dich vielleicht einige Zeit begleiten dürfte. Wenn du magst, nur eine Stunde, vielleicht bist du ja auch mit einem ganzen Tag einverstanden? Ja? Okay, das ist sehr freundlich von dir!

Okay, lass uns unsere gemeinsame Zeit beginnen. Ich werde dich auf der linken Seite begleiten, einverstanden? Du schaust gerade auf die jetzt.de Seite? So, wenn ich da bin, siehst nicht mit einem Auge nichts, sondern du siehst mit beiden Augen nichts nach links, nach rechts ist kein Problem. Schau ruhig weiter auf jetzt.de, siehst du die Kategorien, Macht, job, Sex, usw.? Nun, nein tut mir leid, die erste Kategorie, die du siehst heißt Leben. Weiter unten kommen dann die Artikel, Macht in rot, „Vier junge Menschen über ihre politische Gesinnung“ Und Job, „Selbsständig! Anja und David gefällts imRisiko". Links davon ist nichts, einfach nichts, keine Schwärze, keine Sternchen, keine Grauzone, nichts eben. Oben drüber erscheint ein Banner „ ädchen fragen Jungs“ , das ist gut, ädchen ohne M würde die jetzt-Redaktion nicht schreiben, also musst du den Kopf ungefähr 45 Grad nach links drehen und aha - hier kommt der Rest, bzw. die erste Hälfte vom Banner, die Kategorien Macht, Sex, Job, Kultur und Technik erscheinen, darunter das nette Bild von den Medikamenten und oho - die Artikel haben ja auch eigene Bildchen.

Okay, hast du nun eine ungefähre Ahnung wie ist, wenn ich dich begleite? Noch nicht so ganz? Kein Problem, machen wir einen kleinen Versuch. Gut, such dir bitte einen Punkt vor dir, den du mit den Augen fixierst. Hast du es? So, und jetzt strecke den rechten Arm nach recht aus , hebe den Zeigefinger ein bißchen und fahre in einem Viertelbogen zu deiner Nase. Du siehst rechts den Zeigefinger relativ früh? Gut, alles in Ordnung, freu dich! Jetzt mache bitte das Gleiche mit links. Du wirst den Zeigefinger erst einen Zentimeter vor der Nasenspitze leicht schemenhaft erkennen, denn hier bin ich, die Hemianopsie.

Ich nehme an, nun kannst du dir ungefähr vorstellen, wie es ist, wenn ich bei dir bin, dann kann ich ein paar weitere Eigenheiten von mir erzählen, ich komme nämlich selten allein, ich hab meist ein paar treue Kumpel mit dabei, die Hemiparese, die Halbseitenlähmung, zum Beispiel oder weitere visuellneuroligische Ausfälle, die ich dir alle namentlich erst gar nicht vorstellen möchte, kann sich eh keiner merken. Aber keine Sorge, ihr werdet sie schon noch kennen lernen. Eine weitere Eigenheit von mir ist, dass ich gerne vergessen mache, dass links da ist. Du siehst jetzt nur noch die rechte Seite deiner Umwelt und auch wenn du grundsätzlich weißt, dass links davon etwas da sein muss, vergisst du es manchmal.

Stell dir vor, ich bin noch nicht so lange bei dir, wie eben jetzt, und ein Kollege bringt dir in der Kantine ein Tablett mit Essen, ist doch nett von ihm, oder? Er setzt sich dir gegenüber mit seinem Tablett und du siehst von deiner Seite aus, dass er rechts oben ein Schälchen Pudding hat. Auf deinem Tablett ist definitiv kein Puddingschälchen zu entdecken, so genau du auch hinschaust. Irgendwo im Hintergrund deines Schädels sagt dir ein zaghaftes Stimmchen, dass da doch was war, woran du dich erinnern sollst, aber es will sich nicht so recht durch setzen. Also fragst du den Kollegen ein wenig gekränkt, ob er dich vielleicht auf Diät setzen will oder warum er dir keinen Pudding mitgebracht hat. Der Kollege fängt an mit der rechten Hand irgendwo im Nichts herum zu fuchteln und behauptet, da stehe der Pudding. Oh - ja, achso, du solltest mal den Kopf nach links drehen und tatsächlich steht da der Pudding!

Es gibt durchaus Dinge, die du auch mit mir nicht vergessen wirst, ähnlich einem Patienten mit Gedächtnisschwund, der zwar seinen Namen nicht mehr weiß, aber sich noch erinnern kann, wie man mit Gabel und Messer umgeht. Auch du weißt, dass die Gabel meist links liegt, dass die Autos meist von links kommen und dass du von links nach rechts lesen solltest, wenn du mit der lateinischen Schrift vertraut bist. Aber hier fangen die Probleme an, eben weil du ganz genau weißt, dass Probleme mit einem großen P geschrieben wird, schreibst du nur robleme und dein Hirn setzt automatisch ein P davor. Das passiert auch in der Mitte eines Wortes, denn sobald nur das eine Wort anschaust, siehst du nur die Hälfte davon. Das garantiert eine Menge Rechtschreibfehler, die du nicht wirklich siehst, es sei denn, du trainierst sehr lange das richtige Lesen. Lesen. Die Herrn Doktoren sagen, dass man mit mir nur sehr mühselig wieder lesen kann und es keine Freude mehr sein wird. Weil du ständig den Satzanfang suchen musst, der versteckt sich nämlich irgendwo im Nichts. Wenn du allerdings schon bevor ich zu dir gekommen bin, großen Spaß am Lesen hattest und jetzt unbedingt wieder lesen willst, wenn du bereit bist, dir eine eigene Methode an zu trainern und ganz viel zu üben, dann hast du gute Chancen wieder einigermaßen flüssig lesen zu können. Normale Bücher sind zu schaffen. Ein wenig problematisch wird es mit großen Tageszeitungen, die man weit auseinander falten kann. Die faltest du dir lieber so zusammen, dass du die einzelnen Spalten der Artikel vor dir hast. Oder als kleiner Tip: Steig besser gleich aufs Internet um. Vielleicht richtet dir ein netter Kumpel ja ein Vorleseprogramm auf deinem PC ein, das würde vieles ungemein erleichtern.

Dann gibt es da Dinge, die du erst später angefangen hast regelmäßig zu machen. Beine rasieren zum Beispiel , fängst du doch erst im Teenageralter an. Ein späterworbenes Ritual also. Du sitzt im Sommer in der U-Bahn mit dem tollen kurzen Rock von H&M und stellst plötzlich fest, dass du vergessen hast, dir das linke Bein zu rasieren. Vielleicht ein wenig peinlich, aber noch nicht tragisch. Tragisch wird es, wenn du dir die Augen schminken willst. Gesetz dem Fall du erinnerst dich an dein linkes Auge. Egal, wie viel Spiegel du um dich herumstellst, egal welche Verrenkungen du machst, um im richtigen Winkel vor dem Spiegel zu stehen, dein linkes Auge wirst du nicht sehen. Gewöhn dir lieber gleich an, dein linkes Auge nach Gespür zu schminken. Wenn gerade keine Freundin zur Hand ist, die dir sagen kann, wo etwas ungleichmäßig oder vermalt ist, nimm dir Zeit und eine Digicam, mach ein Selbstpoträt und kontrolliere dich selbst. Oder lass dich Sache mit dem Schminken gleich. Aber keine Sorge, mit der Zeit bekommst du Routine.

Geschminkt oder ungeschminkt gehst du nun mit einer Freundin in der Stadt bummeln und deine engsten Freunde wissen schon, dass sie rechts von dir laufen sollen. Da siehst du sie, da kannst du ihnen zu hören. Läuft jemand links von dir, geht deine ganze Aufmerksamkeit flöten, weil du aufpassen musst, wo der andere ist, wie der Abstand ist, damit du nicht ihn sie oder ihn hinein läufst. Ein Gespräch ist da nicht möglich. Ein Blinder verlässt sich da aufs Gehör, aber du siehst ja rechts alles und deswegen ist dein Gehör nicht stärker und sensibler ausgeprägt.

Gut, nun trefft ihr euch in einem Cafe und wie alle Frauen musst du erst mal aufs Klo. Vor den Klotüren stehst du erst stolz, weil du beide Türen, auch die linke, entdeckt hast, aber schnell wirst du sehr ratlos, anstatt Männlein und Weiblein Figuren hängen da ganz seltsame Muster. Hellblau auf Dunkelblau. Du vertiefst dich in die Gemälde. Hellblaue, dicke Streifen ziehen sich schräg von oben nach unten durch ein sattes dunkelblau und ergeben so ein Dreiecksmuster. Aha. Wo ist bitteschön die Frauentoilette? Leicht betreten holst du deinen Kumpel, der sofort aus den Dreiecken ein M und ein W identifiziert. Das ist ein visuellneurologischer Ausfall mit seltsamen Namen, den sich keiner merken kann.

Danke, liebe Leserin oder lieber Leser, dass du bis hier her durch gehalten hast, ohne dich links an einer Tischkante an zustoßen, dir den Schädel am linken Türrahmen an zuhauen , eine Laterne links umgelaufen zu haben oder einen Rückspiegel zu verbiegen, der von links plötzlich in deinen Weg reingelugt hat. Jetzt bringt dich dein guter Kumpel nur noch mit dem Auto heim. Du setzt dich lieber gleich nach hinten, denn du kannst Abstände und Geschwindigkeiten nicht abschätzen ( du weißt schon, visuellneurologischer Ausfall mit merkwürdigem Namen, den sich keiner merken kann) und bist immer recht schnell davon überzeugt, dass ihr gleich dem Auto vor euch hinten drauf fahrt. Nicht zu vergessen, aus dem linken Nichts hervor rasende Autos, die schneller verschwunden sind, als du sie mit rechts wahrnehmen kannst.

Aber jetzt bist du wieder zu Hause, schaust dir Fotos an und wunderst dich mal wieder, warum alle Personen darauf sich nach rechts quetschen.

















Liebe Leserin oder lieber Leser, herzlichen Dank, dass ich dich eine zeitlang begleiten darf. Und sei nicht schockiert oder traurig oder deprimiert. Denn im Gegensatz zu den meisten anderen, zu denen ich komme, hast du bewiesen, dass du alleine U-Bahnen fahren kannst, zur Uni oder zur Schule gehen kannst, einen Fulltimejob durch halten kannst und alleine leben kannst. Die meisten anderen Menschen die ich, die Hemianopsie, begleite, werden in Frührente geschickt oder können nu noch reduziert arbeiten, trauen sich nicht allein aus dem Haus oder können gar nicht mehr alleine leben. Auch wenn es vor über 20 Jahren noch keine super hochmodernen visuelle Rehatherapien gab wie heute, hat dir vielleicht dein kindlicher Mut und Trotz geholfen, allein durch das Leben zu spazieren.

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