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Verständnis-Hindernisse

Text: mur
Textgebundene Erörterung



Warum spielt ältere Literatur im Leben eines Jugendlichen des 21.Jahrhunderts keine Rolle mehr? Weil es Anstrengung und Mühe erfordert einen in veralteter Sprache verfassten Text zu lesen, weil dies schnell zu Unverständnis und daraus folgend zu einer demotivierten Einstellung führen kann? Weil Jugendliche gar nicht mehr in der Lage sind, sich in Menschen anderer Jahrhunderte zu versetzen und deren Lebenserfahrungen auf das eigene Leben zu projizieren? Möglicherweise fehlt es auch außerschulisch an Vermittlung zwischen „klassische[n] Werken“ (Z.4) und der jungen Generation. Von allein wird ein 9.Klässler nicht auf Wilhelm Tell kommen, aber auf den Wunsch, die modernste Spielkonsole zu besitzen, schon eher.

Ob und wenn ja, was ein Kind liest, hängt völlig von der Erziehung ab. Wenn von elterlicher Seite nicht eine motivierende Grundhaltung zu Büchern gelehrt wurde, fehlt es später an Lust, überhaupt ein Buch aufzuschlagen. Wie kann ein Kind freiwillig „Effi Briest“ lesen, wenn es noch nie davon gehört hat? Es muss mit Sensibilität darauf hingewiesen werden und unauffällig ein Fremdwörterbuch dazu gelegt werden, denn ein Durchschnittsjugendlicher kennt nun mal Wörter wie „proponieren“ oder „schelten“ nicht.

Auch Hans Joachim Grünwaldt stellte sich in seinem Artikel „Sind Klassiker etwa nicht antiquiert?“ die Frage, ob es schon zu spät für Jugendliche ist, ihre „Verständnis-Hindernisse“ (Z.7f.) zu überwinden, da sie vielleicht gar nicht mehr in der Lage sind, den Kontext alter Pflichtlektüre zu erfassen. Gründwaldts Haltung gegenüber jungen Nichtlesenden scheint manchmal neutral oder sogar vertretend, aber oft auch leicht ironisch, indem er viele Begriffe in Anführungsstriche setzt (z.B. „aktuell“ und „antiquiert“, Z. 68), da er diese nur mit wenig Überzeugung verwendet. Damit weist er ebenfalls auf die Verständnis- bzw. Unverständnisproblematik hin.

Eine mögliche Lösung für unwissende Jugendliche wäre Erziehung und Bildung, damit der 90er-Jahrgang weitsichtiger werden würde und Erfahrungen aus anderen Jahrhunderten und Jahrzehnten auf die eigene Zeit - das 21.Jahrhundert - projezieren könne. Die gegensätzliche Extreme sieht Grünwaldt ebenfalls als mögliche Lösung: Den völligen Verzicht auf archaische bzw. vergangene Literatur und die Konzentration auf gegenwärtige Literatur von „noch lebenden Schriftsteller[n]“ (Z.61), da diese Minderjährige am ehesten anspreche. Dessen Sinnhaftigkeit ist fraglich, denn dann würde Kriegsliteratur und anderes historisch wichtiges Material den Kindern fremd bleiben und sie würden noch als Erwachsenen eine Bildungslücke haben. Man beschäftigt sich schließlich mit der Geschichte, um Erfahrungen zu übernehmen und damit Fehler anderer Generationen sich in Zukunft nicht wiederholen. Deswegen wäre es sinnlos, Schüler vom Kontakt zu anderen Jahrhunderten abzukapseln, denn ein gewisser Bezug bzw. ein gewissen Verständnis gegenüber der Vergangenheit und den Menschen vergangener Zeiten sowie derer „Lebensgewohnheiten“ (Z.37) ist ein wichtiger Baustein für allgemein anwendbare Toleranz.

Die Abwehrhaltung gegenüber Literatur der vergangenen Jahrhunderte könnte auch mit dem wachsenden Materialismus junger Generationen zusammen hängen. Denn Lesen ist ein eindeutiges Zeichen für Immaterialismus bzw. immaterieller Unterhaltung, da es die Fantasie und das eigene Denken zur Aktivität auffordert. Die materielle Unabhängigkeit, meint Gründwaldt, spiegelt sich jedoch in der Romanen wieder, die zum Beispiel von mittelalterlichen Lebensweisen berichten (Vgl. Z. 39-41). Könnte man Jugendliche dazu bringen, sich auf andere Werte zu besinnen als Besitz und Ruhm? Könnten sie sich durch ältere Literatur andere Wertevorstellungen zu Eigen machen?

Doch weiterhin bleibt die Frage im Vordergrund, ob man Jugendlichen lehren kann „die Welt und die Menschen so zu sehen, wie der Autor sie sah oder sehen wollte…“ (Z. 56-57), denn ohne jenes Reinversetzen bzw. Verständnis bleibt eine positive Anwendung auf die eigene Persönlichkeit und das eigene Leben völlig aus.

Diese Möglichkeit existiert, jedoch nur so lange, wie aktiv auf Schüler und Schülerinnen eingewirkt wird. Man kann ihnen als Lehrer nicht alles nahe bringen und vielleicht nicht mal ihr Interesse wecken, aber man kann sie unbewusst zur Selbstständigkeit auffordern. Bei manch einem wird dadurch vielleicht das Bemühen nach erwachsenem Intellekt geweckt und der erste Schritt zur Bibliothek oder zum elterlichen Bücherregal veranlasst. Mit genug Eigeninitiative und leichtem Ehrgeiz mangelt es bald nicht mehr an groben Allgemeinwissen, außerdem können durch das Lesen psycholgische Erkenntnisse generell angewendet werden,

denn auch aus alten Werken kann „der junge Mensch etwas über seine Zeit und sich lernen“ (Z.66f.).


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