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Zivildienstschule Spiegelau - Auf Lehrgang am Ende der Welt

Text: MapleLeaf
Das formlose Schreiben ist nüchtern und unpersönlich: „…ordne ich hiermit Ihre Teilnahme an einem Lehrgang in Spiegelau an. Anfahrtsskizze beiliegend.“ Mit freundlichen Grüßen, immerhin. So weit, so gut. Zu den vielen Erfahrungen die man als Zivildienstleistender macht, zählt wohl auch der unvermeidliche Lehrgang. Spiegelau? Der Blick auf die Karte zeigt einen winzigen Punkt im äußersten Osten Bayerns. Große Wälder, kleine Dörfer. Und mitten drin offensichtlich die Zivildienstschule. Na dann mal los.

Montagmorgen. Der Zug rumpelt gemächlich aus München heraus. Quält sich stundenlang von einer bayrischen Kleinstadt zur nächsten. Landshut, Landau, es nimmt kein Ende - dann endlich die erste Umsteigestation: Plattling. Dort heißt es auch schon Abschied nehmen von der Deutschen Bahn, denn ab hier fährt nur noch die so genannte „Waldbahn“, ein schmucker Bummelzug mit provinziellem Hinterlandtouch. Ob das auch wirklich der Zug sei, den man nehmen solle, wollen einige mitreisende Zivis wissen. Doch die Beschriftung ist eindeutig. Als wir am nächsten Umsteigebahnhof in Zwiesel ankommen, haben wir schon eine Panoramafahrt durch die liebliche Landschaft um den Bayerischen Wald hinter uns. Doch es kommt noch besser: Auf der letzten Etappe von Zwiesel nach Spiegelau wühlen sich die Geleise abwechselnd durch düstere Tannenforste und sonnendurchflutete Mischwälder, lediglich unterbrochen von winzigen Nestern, in denen nur auf Knopfdruck gehalten wird. Der Zugführer muss jetzt ständig hupen, kein Bahnübergang ist mehr beschrankt. Die Karte neben dem Fenster empfiehlt die schönsten Wanderstrecken im Nationalpark. Eine Gruppe Rentner in Outdoorausrüstung erörtert die Wettervorhersage für die kommenden Tage.

Und schließlich ein gekiester Streifen Bahnsteig, verwitternde Schilder und ein Schuppen: Spiegelau. Ziel erreicht, alles Aussteigen. Der kleine Bahnhof ist überfüllt mit Zivis und deren Gepäckstücken. Nach kurzem Umsehen setzt sich die Menge in Bewegung, Anfahrtsskizzen und Wegbeschreibungen werden entfaltet. „Wo müssen wir hin?“, fragen einige. „Verlaufen kann man sich hier ja wohl kaum“ kommt es spöttisch von anderer Seite zurück. Vorbei am so genannten „Musikpub“ des Dorfes steigen wir den Hügel hinauf zum Gebäude Zivildienstschule. Als alle Anmeldeformalitäten erledigt und die Zimmer bezogen sind („Bitte lesen Sie sich die Hausordnung durch!“), kommen alle Zivis nach dem Mittagessen im Plenum zum Eingangsvortrag zusammen. „Meine Herren, ich darf sie bitten, Ihre elektronischen Fußfesseln auszuschalten.“ Der Direktor der Anstalt, ein gewichtiger, untersetzter Mann mit Schnauzer unter der Nase und Mikrofon vorm Mund, klärt zunächst, langsam auf- und abschreitend, über die Gefahren von Mobiltelefonen und Datenüberwachung auf. Nach einigen generellen politischen Statements seinerseits kommt er dann allerdings doch noch auf den Zivildienst zu sprechen: „Dann wollen wir mal Butter an den Fisch geben!“ Seine offenbar routinierte Rede hat es in sich: Begleitet von düsteren Worten malt er Paragraphen und Artikel an die Tafel, warnt, mahnt, prophezeit: „Und wenn Sie nicht mit dem Opa durch die Scheiße fahren wollen? Sie fahren mit ihm durch – und machen danach noch den Rollstuhl sauber, alles andere ist de facto Befehlsverweigerung!“ Doch leider ist das jugendliche Publikum nicht so leicht zu beeindrucken, worauf der durch Zwischenlacher und ironische Kommentare erboste Direktor uns wissen lässt, er habe große Sorgen um den pannenfreien Ausgang des Lehrgangs.

Abschließend werden wir in Gruppen eingeteilt, die während der Woche verschiedene gesellschaftspolitische Themen behandeln sollen. Der Referent für das Thema: „Kriege, Konflikte, Kulturen“, ein verrenteter Soziologe, der wegen Personalmangel eingesprungen ist, erzählt der Gruppe zu Beginn einige, wie er es nennt, „Schwänke aus meinem Leben“. Dann bittet er die Teilnehmer, sich vorzustellen. Jeden Einzelnen fragt er detailliert über seine Arbeitsstelle aus. Der Nachmittag kriecht dahin. Zuerst sinken die Ellenbogen auf die Tische, dann die Köpfe auf die Arme. Am Ende ist die Vorstellungsrunde doch noch geschafft.

Nach dem Abendessen soll der Freizeitbetreuer uns die Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb der Dienstzeit erläutern. „Ich glaube, Sie haben selbst schon gemerkt, dass hier nicht viel los ist.“, meint dieser als Erstes – und hat die Lacher auf seiner Seite. Er könne uns aber eine Vielzahl Aktivitäten innerhalb des Hauses anbieten. Als er geendet hat stürmt alles auf die drei Supermärkte des Dorfes zu, um Bier zu holen. Fernseher und DVD-Player werden angeschaltet, Billardtische und Tischtennisplatten in Betrieb genommen. Um 23 Uhr beginnt die offizielle Nachtruhe, alle müssen auf den Zimmern sein.

Die nächsten Tage ziehen sich quälend in die Länge. Der freundliche Dozent gibt sich alle Mühe, die Gruppe mit seinen launigen Anekdoten bei Laune zu halten. Trotzdem herrscht eine schläfrige, desinteressierte Stimmung im Raum – einige verarbeiten noch, still vor sich hin dösend, das am Vorabend getrunkene Bier, andere blättern in Zeitschriften und spielen Käsekästchen. Man hat das Gefühl, nichts Neues zu lernen, da die meisten Informationen rund um den Zivildienst auch in den zahlreichen Broschüren nachzulesen sind, die man schon lange vorher erhalten hat. Das eigentliche Thema der Gruppe, „Konflikte, Kriege und Kulturen“, wird leider nur oberflächlich angeschnitten, da der Lehrer diesbezüglich offenbar nur rudimentäre Kenntnisse besitzt. So erzählt er hauptsächlich von seinen Reisen in orientalische Länder – mit kurzen Seitenblicken auf den Islam im Allgemeinen. Gelegentliche Filmvorführungen empfinden wir als willkommene, weil vergleichsweise interessante Abwechslung.

Nach Unterrichtsschluss haben besonders die Fernsehräume regen Zulauf. Ein langatmiger Filmepos nach dem anderen wird dort abgespielt. Manche nutzen den freien Teil der Nachmittage für Exkursionen in den Nationalpark Bayrischer Wald. Viel anderes gibt es nicht zu tun in Spiegelau. Jeden Tag stapeln sich die Bierflaschen in den Leergutsammelbehältern.

Freitagmorgen. Langsam kommt wieder Leben in die Lehrgangsteilnehmer – ein Ende des erzwungenen Aufenthalts in dem kleinen niederbayrischen Nest ist endlich in greifbare Nähe gerückt. Bettwäsche und Handtücher werden im Keller abgegeben, Zimmer geräumt und Mülleimer geleert. Überall stehen gepackte Taschen, es herrscht ausgelassene Aufbruchsstimmung. Doch vor der Abreise steht noch ein letzter Vortrag an: Der gestrenge Herr Direktor referiert über Geld- und Sachbezüge. „Sie sollten aufpassen, meine Herren, das liegt in Ihrem eigenen Interesse!“ Endlich ist ein Thema gefunden, für dass sich zumindest der Großteil der Gruppe rege interessiert. Zum ersten Mal in dieser Woche hat man das Gefühl, dass es sich lohnen könnte, aufmerksam zuzuhören. Ausführlich erklärt der Anstaltsleiter uns alle möglichen und unmöglichen Formen von geldlichen und materiellen Zuwendungen. Und als er geendet hat, sind wir uns einig, dass dieser Vortrag eigentlich das einzig Sinnvolle der gesamten Lehrgangswoche gewesen sei.

Nach Erledigung der letzten bürokratischen Formalitäten sind die mehr als hundert Zivildienstleistenden dann endlich entlassen. „Nichts wie weg hier“, lautet nun das Credo. Alles strömt zu den Parkplätzen. Fahrgemeinschaften werden gebildet, jeder versucht, irgendeine Mitfahrgelegenheit zu ergattern, denn der nächste Zug fährt erst zwei Stunden später. Wer Pech hat, muss nun also wieder die elend lange Reise durch die bayrische Provinz auf sich nehmen, um nach Hause zu kommen. Die Fahrt nach München dauert fast vier Stunden.

Der Sinn des einwöchigen Lehrgangs? Diese Frage könnte wohl keiner der Teilnehmer im Nachhinein beantworten. Aber wozu auch? Die Sache ist vorbei, zu vergessen gibt es nicht viel. Wenigstens war das Essen ausgezeichnet und reichlich. Und diese Woche müssen schon wieder hundert andere Zivis ihre Lehrgangswoche absitzen – im ruhigen, beschaulichen Spiegelau.

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