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Abenteuer der Moderne.
Der Suhrkamp-Verlag hat Roland Barthes` erste Vorlesungsreihe verlegt, in der auch einer der großen Abenteurer der Literatur neu entdeckt wird.
Zweifellos erblickte einer der größten Abenteurer der Geschichte das Licht der Literaturwelt, als Daniel Defoe im Jahre 1719 seinen Roman Robinson Crusoe veröffentlichte.
Leben und wunderbare Abenteuer des Robinson Crusoe, Seemanns aus York, der 28 Jahre lang ganz einsam auf einer unbewohnten Insel an der Küste Amerikas nahe der Mündung des großen Stromes Orinoko lebte, wohin er als einziger Überlebender der ganzen Mannschaft durch Schiffbruch verschlagen war; nebst einem Bericht über seine ebenso wunderbare Befreiung durch Piraten. Beschrieben von ihm selbst., so der vollständige Titel der Erfolgsschrift, avancierte im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte gar zum Urbild einer eigenständigen Kategorie innerhalb des Genres Abenteuerroman: die Robinsonade.
Spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gern als Kinderbuch verlegt, musste es sich Defoe schon kurz nach der Veröffentlichung vor beinahe 300 Jahren gefallen lassen, dass seine umfassende Gesellschaftskritik auf eine gut geschriebene, aber eher aussagenarme Abenteuergeschichte reduziert wurde. Dass dem hauptberuflichen Kaufmann da ein Unrecht geschah und geschieht, ist dem kundigen Leser mit dem gespitzten Bleistift in der Hand spätestens klar, wenn er sich dessen Gewahr wird, dass Robinson nicht von einem aufregendem Erlebnis zum nächsten hechtet, sondern ein großer Teil der mehreren Hundert Seiten mit Beschreibungen handwerklicher oder landwirtschaftlicher Techniken gefüllt ist. Und zwar auch dann, wenn man die Mutter der (seefahrenden) Abenteurergeschichten, die Odyssee, deren Existenz die Entstehung des Robinson selbstverständlich stillschweigend voraussetzt, links liegen lässt.
Die brillante Art und Weise aber, in der der Meister der soziologischen Literaturrezeption und Interpretation, Roland Barthes, den Abenteurer Crusoe in einen neuen Zusammenhang bettet und nebenbei für diesen Roman das Problem erledigt, dem sich jeder Klassiker heutzutage stellen muss, nämlich was der alte Schinken dem modernen Menschen überhaupt noch zu sagen habe, lässt wohl jeden Leser geradezu atemlos zurück und selbst den kühnsten Bleistift ehrfürchtig zu einem 9B aufweichen.
Als Band der Edition Suhrkamp liegt seit Anfang des Jahres die erste Vorlesungsreihe Roland Barthes` nach seiner Berufung an das renommierte Collège de France erstmals auf Deutsch vor. Im Mittelpunkt der Vorlesung aus den Jahren 1976/77 steht der Begriff der Idiorrhythmie.
Sie ist Barthes Phantasma, sein wiederkehrendes Begehren, Bilder, die in uns herumschleichen, einander suchen, manchmal ein ganzes Leben lang, und sich erst bei der Begegnung mit einem bestimmten Wort auskristallisieren.
Sie meint Barthes Utopie von einem Zusammenleben, das Einsamkeit und Geselligkeit miteinander vereint, in der ein jeder nach seinem eigen[en] (idios) Rhythmus lebt. Barthes fand dieses Idyll in der Gemeinschaft der Mönche auf dem Berg Athos, die in ihrer autonomen Mönchsrepublik auf der griechischen Halbinsel Chalkidiki verwirklicht hatten, was Barthes nur undeutlich und bar eines sprachlichen Ausdrucks berührte. Die Mönche schlafen und essen allein, jede Form des Zusammenkommens ist erwünscht, aber vollkommen freiwillig.
Daneben sind Barthes Überlegungen von einem literarischen Korpus inspiriert. Der Roman enthält eine Struktur, ein Argument (das Modell), anhand dessen man Themen, Subjekte und Situationen entfaltet. Ein konkret idiorrhythmisches Modell in der Literatur ist Barthes nicht bekannt, wohingegen nahezu jeder Roman ein Modell des Zusammen oder Alleinlebens, des menschlichen Miteinanders überhaupt sei. Neben Gides Die Eingeschlossene von Poitiers, Palladios Historia lausiaca, Thomas Manns Der Zauberberg und Zolas Ein feines Haus hat Roland Barthes den Robinson-Epos zur Veranschaulichung ausgewählt.
Jedes Phantasma, erläutert Barthes, jedes Modell, auch in der Literatur, verlangt einen Ort, an dem es passiert. Gides Zimmer ist Palladios Wüste ist Manns Hotel ist Zolas (bürgerliches) Mietshaus und ist eben Robinsons Höhle, der Bau.
Nachdem Robinson Crusoe seinen Schiffbruch erlitten hat, ist er völlig allein. Wenn dreizehn Tage später auch das verunglückte Schiff versinkt, dass bis dahin noch auf den Klippen kurz vor der Insel der Rettung lag, symbolisiert dies Robinsons vorerst endgültigen Abschied von der Welt. Der Gestrandete konzentriert sich auf sein leibliches Wohl, verwendet seine Kräfte zur Nahrungsbeschaffung, denn er will überleben. Daneben werden Robinson Gedanken und Handlungen von dem Wunsch nach und der Angst vor anderen Menschen dominiert. So sehr er sich nach Gesellschaft sehnt, so sehr fürchtet er auch einen Übergriff. Barthes lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass nicht die Insel der Ort von Robinsons Einsamkeit ist, sondern die Festung, die dieser sich zu seinem Schutz errichtet. Die Höhle, die Robinson sich aus Naturmaterialien der Insel zimmert und mit Habseligkeiten, die er vom Schiff retten konnte, einrichtet, bildet seinen Raum der Distanz zu anderen Lebewesen. Es ist beinahe eine Abschließung als Delirium, die in einem begrenztem Maß auch freiwillig geschieht und nicht allein durch den Schiffbruch bedingt ist. Die Distanz entwickelt sich im Laufe des Romans zurück, zunächst durch kannibalische Eingeborene einer Nachbarinsel, später durch den prominenten Gefährten Freitag. Barthes beschreibt Robinson direkt nach der Ankunft auf der Insel, als Menschen in einem Naturzustand, der dann eine Erhebung vom Tier zum Menschen durchlaufe. An diesem Beispiel wird deutlich, dass sich für Roland Barthes das Menschsein daran bemisst, ob man die Fähigkeit besitzt, eine persönliche Ethik der Distanz zu Anderen entwickeln zu können.
Barthes wertet die Geschichte des einsamen Abenteurers Robinson Crusoe, der 28 Jahre auf einer einsamen Insel lebt, um, in eine Geschichte, deren eigentlicher Zauber das Nichtereignis ist, und interpretiert sie als eine mögliche Antwort auf seine Frage, die lautet Wie zusammen leben. Es ist eine Gegenfrage, die dieser Roman formuliert: Wie nicht zusammen leben?
Während Robinson Crusoe gerettet, und in Athos 1990 die Idiorrhythmie abgeschafft wurde, ist die Abschottung, die Robinson zufällig und schicksalhaft widerfährt, in unserer Welt der Individualität eine romantische Sehnsucht und Realität zugleich. Eine Abschottung von der Außenwelt oder eine Reduzierung der Außenwelt nach eigenem (idios) Willen oder durch Ausgrenzung ist keine Seltenheit. Die Gruppenbildung und Kommunikation, die im Gegenzug vielerorts im Internet, also im virtuellen Raum stattfindet, kann diese Individualisierung nicht aufheben, sondern verstärkt sie noch. Denn der Raum, den sich der moderne Mensch noch neu erschließen kann, der virtuelle Ort, ist nicht der Ort einer gleichwertigen Kommunikation, die sich vom realen gesellschaftlichen in einen irrealen Raum verschoben hat. Vielmehr hat sich die Qualität der Kommunikation grundlegend verändert. Vor allem vollzieht sie sich auf egozentrische Weise, da die Fortsetzung der Kommunikation oder eben ihr Abbrechen nur einen Knopfdruck entfernt ist. Das Internet kann als eine reale Idiorrhythmie bezeichnet werden, die im Cyberspace stattfindet. Allerdings ist es lediglich eine pervertierte Form der Barthschen Utopie eines Alleine/Miteinanders. Denn im virtuellen Raum konstituiert sich nur schwerlich eine Ethik der Distanz. Vielmehr herrscht vor dem Computer die Distanz totalitär und lässt sich zu keinem Zeitpunkt vollständig überwinden. Der Souverän ist die Distanz selbst, der moderne Mensch nur die Nussschale auf dem Ozean, die ihren Schiffbruch nicht für immer wird hinauszögern können. Dann wäre das Abenteuer des modernen Menschen, nämlich letztlich immer das der richtigen und guten Koexistenz, beendet. Um dies zu vermeiden, muss Barthes` Frage nach dem richtigen Miteinander, nach dem Mittelweg zwischen Distanz und Nähe, die nicht weniger aktuell, nur wesentlich komplizierter geworden ist, immer wieder gestellt werden.
Welchen Roman würden Sie mit auf eine einsame Insel nehmen?
Zweifellos erblickte einer der größten Abenteurer der Geschichte das Licht der Literaturwelt, als Daniel Defoe im Jahre 1719 seinen Roman Robinson Crusoe veröffentlichte.
Leben und wunderbare Abenteuer des Robinson Crusoe, Seemanns aus York, der 28 Jahre lang ganz einsam auf einer unbewohnten Insel an der Küste Amerikas nahe der Mündung des großen Stromes Orinoko lebte, wohin er als einziger Überlebender der ganzen Mannschaft durch Schiffbruch verschlagen war; nebst einem Bericht über seine ebenso wunderbare Befreiung durch Piraten. Beschrieben von ihm selbst., so der vollständige Titel der Erfolgsschrift, avancierte im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte gar zum Urbild einer eigenständigen Kategorie innerhalb des Genres Abenteuerroman: die Robinsonade.
Spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gern als Kinderbuch verlegt, musste es sich Defoe schon kurz nach der Veröffentlichung vor beinahe 300 Jahren gefallen lassen, dass seine umfassende Gesellschaftskritik auf eine gut geschriebene, aber eher aussagenarme Abenteuergeschichte reduziert wurde. Dass dem hauptberuflichen Kaufmann da ein Unrecht geschah und geschieht, ist dem kundigen Leser mit dem gespitzten Bleistift in der Hand spätestens klar, wenn er sich dessen Gewahr wird, dass Robinson nicht von einem aufregendem Erlebnis zum nächsten hechtet, sondern ein großer Teil der mehreren Hundert Seiten mit Beschreibungen handwerklicher oder landwirtschaftlicher Techniken gefüllt ist. Und zwar auch dann, wenn man die Mutter der (seefahrenden) Abenteurergeschichten, die Odyssee, deren Existenz die Entstehung des Robinson selbstverständlich stillschweigend voraussetzt, links liegen lässt.
Die brillante Art und Weise aber, in der der Meister der soziologischen Literaturrezeption und Interpretation, Roland Barthes, den Abenteurer Crusoe in einen neuen Zusammenhang bettet und nebenbei für diesen Roman das Problem erledigt, dem sich jeder Klassiker heutzutage stellen muss, nämlich was der alte Schinken dem modernen Menschen überhaupt noch zu sagen habe, lässt wohl jeden Leser geradezu atemlos zurück und selbst den kühnsten Bleistift ehrfürchtig zu einem 9B aufweichen.
Als Band der Edition Suhrkamp liegt seit Anfang des Jahres die erste Vorlesungsreihe Roland Barthes` nach seiner Berufung an das renommierte Collège de France erstmals auf Deutsch vor. Im Mittelpunkt der Vorlesung aus den Jahren 1976/77 steht der Begriff der Idiorrhythmie.
Sie ist Barthes Phantasma, sein wiederkehrendes Begehren, Bilder, die in uns herumschleichen, einander suchen, manchmal ein ganzes Leben lang, und sich erst bei der Begegnung mit einem bestimmten Wort auskristallisieren.
Sie meint Barthes Utopie von einem Zusammenleben, das Einsamkeit und Geselligkeit miteinander vereint, in der ein jeder nach seinem eigen[en] (idios) Rhythmus lebt. Barthes fand dieses Idyll in der Gemeinschaft der Mönche auf dem Berg Athos, die in ihrer autonomen Mönchsrepublik auf der griechischen Halbinsel Chalkidiki verwirklicht hatten, was Barthes nur undeutlich und bar eines sprachlichen Ausdrucks berührte. Die Mönche schlafen und essen allein, jede Form des Zusammenkommens ist erwünscht, aber vollkommen freiwillig.
Daneben sind Barthes Überlegungen von einem literarischen Korpus inspiriert. Der Roman enthält eine Struktur, ein Argument (das Modell), anhand dessen man Themen, Subjekte und Situationen entfaltet. Ein konkret idiorrhythmisches Modell in der Literatur ist Barthes nicht bekannt, wohingegen nahezu jeder Roman ein Modell des Zusammen oder Alleinlebens, des menschlichen Miteinanders überhaupt sei. Neben Gides Die Eingeschlossene von Poitiers, Palladios Historia lausiaca, Thomas Manns Der Zauberberg und Zolas Ein feines Haus hat Roland Barthes den Robinson-Epos zur Veranschaulichung ausgewählt.
Jedes Phantasma, erläutert Barthes, jedes Modell, auch in der Literatur, verlangt einen Ort, an dem es passiert. Gides Zimmer ist Palladios Wüste ist Manns Hotel ist Zolas (bürgerliches) Mietshaus und ist eben Robinsons Höhle, der Bau.
Nachdem Robinson Crusoe seinen Schiffbruch erlitten hat, ist er völlig allein. Wenn dreizehn Tage später auch das verunglückte Schiff versinkt, dass bis dahin noch auf den Klippen kurz vor der Insel der Rettung lag, symbolisiert dies Robinsons vorerst endgültigen Abschied von der Welt. Der Gestrandete konzentriert sich auf sein leibliches Wohl, verwendet seine Kräfte zur Nahrungsbeschaffung, denn er will überleben. Daneben werden Robinson Gedanken und Handlungen von dem Wunsch nach und der Angst vor anderen Menschen dominiert. So sehr er sich nach Gesellschaft sehnt, so sehr fürchtet er auch einen Übergriff. Barthes lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass nicht die Insel der Ort von Robinsons Einsamkeit ist, sondern die Festung, die dieser sich zu seinem Schutz errichtet. Die Höhle, die Robinson sich aus Naturmaterialien der Insel zimmert und mit Habseligkeiten, die er vom Schiff retten konnte, einrichtet, bildet seinen Raum der Distanz zu anderen Lebewesen. Es ist beinahe eine Abschließung als Delirium, die in einem begrenztem Maß auch freiwillig geschieht und nicht allein durch den Schiffbruch bedingt ist. Die Distanz entwickelt sich im Laufe des Romans zurück, zunächst durch kannibalische Eingeborene einer Nachbarinsel, später durch den prominenten Gefährten Freitag. Barthes beschreibt Robinson direkt nach der Ankunft auf der Insel, als Menschen in einem Naturzustand, der dann eine Erhebung vom Tier zum Menschen durchlaufe. An diesem Beispiel wird deutlich, dass sich für Roland Barthes das Menschsein daran bemisst, ob man die Fähigkeit besitzt, eine persönliche Ethik der Distanz zu Anderen entwickeln zu können.
Barthes wertet die Geschichte des einsamen Abenteurers Robinson Crusoe, der 28 Jahre auf einer einsamen Insel lebt, um, in eine Geschichte, deren eigentlicher Zauber das Nichtereignis ist, und interpretiert sie als eine mögliche Antwort auf seine Frage, die lautet Wie zusammen leben. Es ist eine Gegenfrage, die dieser Roman formuliert: Wie nicht zusammen leben?
Während Robinson Crusoe gerettet, und in Athos 1990 die Idiorrhythmie abgeschafft wurde, ist die Abschottung, die Robinson zufällig und schicksalhaft widerfährt, in unserer Welt der Individualität eine romantische Sehnsucht und Realität zugleich. Eine Abschottung von der Außenwelt oder eine Reduzierung der Außenwelt nach eigenem (idios) Willen oder durch Ausgrenzung ist keine Seltenheit. Die Gruppenbildung und Kommunikation, die im Gegenzug vielerorts im Internet, also im virtuellen Raum stattfindet, kann diese Individualisierung nicht aufheben, sondern verstärkt sie noch. Denn der Raum, den sich der moderne Mensch noch neu erschließen kann, der virtuelle Ort, ist nicht der Ort einer gleichwertigen Kommunikation, die sich vom realen gesellschaftlichen in einen irrealen Raum verschoben hat. Vielmehr hat sich die Qualität der Kommunikation grundlegend verändert. Vor allem vollzieht sie sich auf egozentrische Weise, da die Fortsetzung der Kommunikation oder eben ihr Abbrechen nur einen Knopfdruck entfernt ist. Das Internet kann als eine reale Idiorrhythmie bezeichnet werden, die im Cyberspace stattfindet. Allerdings ist es lediglich eine pervertierte Form der Barthschen Utopie eines Alleine/Miteinanders. Denn im virtuellen Raum konstituiert sich nur schwerlich eine Ethik der Distanz. Vielmehr herrscht vor dem Computer die Distanz totalitär und lässt sich zu keinem Zeitpunkt vollständig überwinden. Der Souverän ist die Distanz selbst, der moderne Mensch nur die Nussschale auf dem Ozean, die ihren Schiffbruch nicht für immer wird hinauszögern können. Dann wäre das Abenteuer des modernen Menschen, nämlich letztlich immer das der richtigen und guten Koexistenz, beendet. Um dies zu vermeiden, muss Barthes` Frage nach dem richtigen Miteinander, nach dem Mittelweg zwischen Distanz und Nähe, die nicht weniger aktuell, nur wesentlich komplizierter geworden ist, immer wieder gestellt werden.
Welchen Roman würden Sie mit auf eine einsame Insel nehmen?