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Leben aus Bildern
Martin Kaschner* kommt zu spät zur Arbeit. Martin versetzt seinen besten Freund. Martins Leben ist außer Rand und Band. Weil Martin nächtelang Pornos guckt und masturbiert. Bis fünf Uhr morgens. Bis zur seelischen und körperlichen Erschöpfung geht das. Dann setzt das Denken wieder ein. "Ausgezehrt", nennt Martin diesen Zustand. Die Abbilder der Videos in seinem Kopf treten für kurze Zeit in den Hintergrund.
Jona Hartung nimmt die externe Festplatte ihres Bruders an sich. Ein Blick genügt ihr: unzählige Pornos. Die 25-jährige Studentin geht die Dateiliste routiniert durch. Ein paar Sachen erscheinen ihr zu hart für die Augen ihres fünf Jahre älteren Bruders. "Kot und so, das muss nicht sein", sagt sie und klingt fürsorglich. Diese Filme löscht sie. Den Rest kopiert sich die freundliche Studentin mit den kleinen Locken auf ihre eigene Festplatte. Jona schaut regelmäßig Pornos, um sich dabei selbst zu befriedigen. Ihr Konsum nehme phasenweise zu und ab, sagt sie. "Grundsätzlich habe ich das aber im Griff." Rund die Hälfte ihrer Freunde, schätzt Jona, schaut ebenfalls Pornos, Mädchen genauso wie Jungs.
81 Prozent aller Deutschen über 15 Jahren konsumieren laut einer Studie der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS) Pornographie. Damit gibt es viermal mehr Pornokonsumenten als Raucher in Deutschland. Trotzdem redet fast niemand über Pornographie. Kaum ein anderes Thema nimmt im Leben vieler Menschen mehr Platz ein und wird gleichzeitig in so geringem Ausmaß besprochen. Und das, obwohl der flächendeckende Pornokonsum Grundsatzfragen nach der Bedeutung von Sexualität aufwirft. Gleichzeitig stehen Politik und Gesellschaft vor neue Herausforderungen, die nicht gemeistert werden, weil niemand über sie redet: zum Beispiel Pornographiesucht und Jugendliche, deren Verständnis von Sexualität von Hardcorevideos geprägt wird.
"Die Suche nach sexuellen Stimuli ist eine uns Menschen angeborene Eigenschaft", sagt der Sexualforscher Jakob Pastötter von der DGSS. Pornos nennt der Fachmann "audiovisuelle Stimuli". Die gebe es in ausschließlich zum Konsum bestimmter Form schon seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts.
Im Leben von Martin gibt es nackte Frauen auf Papier seit seiner Kindheit. "Pornographie war für mich schon in jungen Jahren ein gutes Mittel, zu entspannen", erinnert er sich. Der 39-Jährige ist in Österreich aufgewachsen, in einem liberalen Haushalt. Bei seinen Eltern lagen Softpornos offen herum. Gesprochen wurde über die nackten Frauen aber nicht. Martins Vater besitzt noch andere Hefte, härteres Material, die hält er versteckt. Martin findet diese Hefte zufällig als 10-Jähriger. "Damit hat sich die Grundlage für Schlimmeres gebildet", sagt er heute. Martin bezeichnet sich selbst als Pornosüchtigen. Allerdings hat er seine Sucht seit drei Jahren im Griff. Martin ist ein extremer, aber kein Einzelfall unter den Konsumenten. "Tatsache ist, dass viele Therapeuten Klienten haben, die das Gefühl haben, ihre Pornographienutzung nicht mehr kontrollieren zu können", sagt Pastötter.
Jona, die in Prenzlauer Berg in Berlin lebt und Kulturwissenschaften studiert, braucht keinen Therapeuten. Sie sagt, ihr Sexualleben sei normal. Vergangenen Sommer hat sie zwei Wochen lang ohne Unterbrechung Pornos angeschaut. "Da ist es ausgeartet", sagt sie. Dass jemand pornosüchtig wird, kann sie gut verstehen. Aber normalerweise schaut sie sich Filme nur hin und wieder an. Meistens spult sie bis zu einer Stelle vor, die ihr besonders gut gefällt, um sich zu befriedigen. Der Rest des Filmes interessiert sie nicht. Im vergangenen Sommer hat sie sich in einem Forum registriert, in dem sich Menschen zum Fesselsex verabredeten. "Filme haben die Vorarbeit zu diesem Schritt geleistet", sagt sie. Dazu sei ein Gespräch mit einer Bekannten gekommen, die mit dieser Praktik viel Spaß habe. Zwei von drei Interessenten hat Jona getroffen, mit dem ersten Mann hat sie lediglich rumgealbert, mit dem zweiten Partner zweimal geschlafen.
Jona war enttäuscht. "Wer Pornographie für die Realität der Sexualität hält, wird natürlich enttäuscht werden", sagt Pastötter. Die Frage, ob der Konsum von Pornographie bestehende Phantasien befriedigt, oder andere und neue Phantasien erweckt, kann der Forscher nicht beantworten. Im Hinblick auf ein erfülltes Sexualleben empfiehlt er aber Konsumenten, sich selber die Frage zu stellen, ob es nicht befriedigender sein könnte, die eigenen sexuellen Bedürfnisse und die des Partners autonom zu entdecken und zu erleben.
Martin stimmt dieser Einschätzung unbedingt zu. Er ist mittlerweile verheiratet. Seine Frau weiß von der Sucht und hilft ihm. Er widersteht der Versuchung, seit er sich einer Pfarrerin offenbart hat, die ihn an eine Selbsthilfegruppe verwies. Der Kampf gegen die Sucht geht bei Martin einher mit christlicher Selbstfindung in einer evangelischen Freikirche. Er sagt, dass er für immer mit den Folgen seiner jahrelangen Sucht hadern wird. "Mit Körperlichkeit und Nacktheit bin ich entspannt aufgewachsen", sagt er und schweigt eine Sekunde, bevor er hinzufügt: "Ich könnte normal sein." Stattdessen könne er nicht in öffentliche Saunen oder Freibäder gehen. Sofort würden die Bilder in seinem Kopf zum Leben erwachen. Früher, bevor das Internet Pornographie allgegenwärtig machte, hat Martin sich Bilder ausgedruckt und mit zur Arbeit genommen, um sie in den Pausen anzuschauen. Immer wenn er Pornos anguckte, masturbierte er. Seine Sucht war - klassischen Süchten nicht unähnlich - eine Abwärtsspirale. Aus Bildern wurden Videos, die Videos wurden immer härter: "Es gibt nichts, was ich nicht gesehen habe."
"Pornographiekonsum aktiviert das Belohnungszentrum im Hirn", sagt Pastötter. Der Botenstoff Dopamin werde ausgeschüttet, es komme zu einem "High". "Doch gleichzeitig verringert sich das Lusterleben", sagt der Experte. "Dann sind stärkere Reize notwendig, um dasselbe zu erleben."Das Verlangen nach härterem Stoff verlangt die Produktion von härteren Videos. Die Regisseure setzen gezielt auch auf aggressive Elemente: Oft sind Lustschreie kaum noch von Schmerzschreien zu unterscheiden. Die öffentliche Wahrnehmung steht dem gleichgültig gegenüber: Sex - in welcher Form auch immer - auf dem Bildschirm ist heute kein Grund mehr, Fragen zu stellen. Von den großen politisierten Debatten der 80er und 90er Jahre hat sich die Gesellschaft verabschiedet. Nur Alice Schwarzer mahnt wie ein Fels in der Brandung. Allerdings dürfte Schwarzers wenig differenzierte Sichtweise und ihre grundsätzlich ablehnende Haltung ihren Teil dazu beigetragen haben, dass sich Menschen mit Interesse an einer Debatte von ihr verabschiedeten.
Jonas und Martins Geschichten sind nur zwei von Millionen möglichen Antworten auf die Frage, was das ansteigende immer leichter auffindbare Angebot von immer härterer Pornographie für unsere Gesellschaft bedeutet. "Das Problem ist, dass Pornographie nur audiovisuell wirkt", sagt Pastötter. "Sex dagegen spricht alle Sinne an." Der Mensch ziehe Lehren aus seinen Erfahrungen, auch aus einseitigen. Pastötter fasst sich kurz: "Wer zuviel Pornos guckt, verwandelt sich in eine enthumanisierten Reiz-Reaktionsmaschine." johannes-boie.jetzt.de
* alle Namen der Betroffenen geändert
Jona Hartung nimmt die externe Festplatte ihres Bruders an sich. Ein Blick genügt ihr: unzählige Pornos. Die 25-jährige Studentin geht die Dateiliste routiniert durch. Ein paar Sachen erscheinen ihr zu hart für die Augen ihres fünf Jahre älteren Bruders. "Kot und so, das muss nicht sein", sagt sie und klingt fürsorglich. Diese Filme löscht sie. Den Rest kopiert sich die freundliche Studentin mit den kleinen Locken auf ihre eigene Festplatte. Jona schaut regelmäßig Pornos, um sich dabei selbst zu befriedigen. Ihr Konsum nehme phasenweise zu und ab, sagt sie. "Grundsätzlich habe ich das aber im Griff." Rund die Hälfte ihrer Freunde, schätzt Jona, schaut ebenfalls Pornos, Mädchen genauso wie Jungs.
81 Prozent aller Deutschen über 15 Jahren konsumieren laut einer Studie der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS) Pornographie. Damit gibt es viermal mehr Pornokonsumenten als Raucher in Deutschland. Trotzdem redet fast niemand über Pornographie. Kaum ein anderes Thema nimmt im Leben vieler Menschen mehr Platz ein und wird gleichzeitig in so geringem Ausmaß besprochen. Und das, obwohl der flächendeckende Pornokonsum Grundsatzfragen nach der Bedeutung von Sexualität aufwirft. Gleichzeitig stehen Politik und Gesellschaft vor neue Herausforderungen, die nicht gemeistert werden, weil niemand über sie redet: zum Beispiel Pornographiesucht und Jugendliche, deren Verständnis von Sexualität von Hardcorevideos geprägt wird.
"Die Suche nach sexuellen Stimuli ist eine uns Menschen angeborene Eigenschaft", sagt der Sexualforscher Jakob Pastötter von der DGSS. Pornos nennt der Fachmann "audiovisuelle Stimuli". Die gebe es in ausschließlich zum Konsum bestimmter Form schon seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts.
Im Leben von Martin gibt es nackte Frauen auf Papier seit seiner Kindheit. "Pornographie war für mich schon in jungen Jahren ein gutes Mittel, zu entspannen", erinnert er sich. Der 39-Jährige ist in Österreich aufgewachsen, in einem liberalen Haushalt. Bei seinen Eltern lagen Softpornos offen herum. Gesprochen wurde über die nackten Frauen aber nicht. Martins Vater besitzt noch andere Hefte, härteres Material, die hält er versteckt. Martin findet diese Hefte zufällig als 10-Jähriger. "Damit hat sich die Grundlage für Schlimmeres gebildet", sagt er heute. Martin bezeichnet sich selbst als Pornosüchtigen. Allerdings hat er seine Sucht seit drei Jahren im Griff. Martin ist ein extremer, aber kein Einzelfall unter den Konsumenten. "Tatsache ist, dass viele Therapeuten Klienten haben, die das Gefühl haben, ihre Pornographienutzung nicht mehr kontrollieren zu können", sagt Pastötter.
Jona, die in Prenzlauer Berg in Berlin lebt und Kulturwissenschaften studiert, braucht keinen Therapeuten. Sie sagt, ihr Sexualleben sei normal. Vergangenen Sommer hat sie zwei Wochen lang ohne Unterbrechung Pornos angeschaut. "Da ist es ausgeartet", sagt sie. Dass jemand pornosüchtig wird, kann sie gut verstehen. Aber normalerweise schaut sie sich Filme nur hin und wieder an. Meistens spult sie bis zu einer Stelle vor, die ihr besonders gut gefällt, um sich zu befriedigen. Der Rest des Filmes interessiert sie nicht. Im vergangenen Sommer hat sie sich in einem Forum registriert, in dem sich Menschen zum Fesselsex verabredeten. "Filme haben die Vorarbeit zu diesem Schritt geleistet", sagt sie. Dazu sei ein Gespräch mit einer Bekannten gekommen, die mit dieser Praktik viel Spaß habe. Zwei von drei Interessenten hat Jona getroffen, mit dem ersten Mann hat sie lediglich rumgealbert, mit dem zweiten Partner zweimal geschlafen.
Jona war enttäuscht. "Wer Pornographie für die Realität der Sexualität hält, wird natürlich enttäuscht werden", sagt Pastötter. Die Frage, ob der Konsum von Pornographie bestehende Phantasien befriedigt, oder andere und neue Phantasien erweckt, kann der Forscher nicht beantworten. Im Hinblick auf ein erfülltes Sexualleben empfiehlt er aber Konsumenten, sich selber die Frage zu stellen, ob es nicht befriedigender sein könnte, die eigenen sexuellen Bedürfnisse und die des Partners autonom zu entdecken und zu erleben.
Martin stimmt dieser Einschätzung unbedingt zu. Er ist mittlerweile verheiratet. Seine Frau weiß von der Sucht und hilft ihm. Er widersteht der Versuchung, seit er sich einer Pfarrerin offenbart hat, die ihn an eine Selbsthilfegruppe verwies. Der Kampf gegen die Sucht geht bei Martin einher mit christlicher Selbstfindung in einer evangelischen Freikirche. Er sagt, dass er für immer mit den Folgen seiner jahrelangen Sucht hadern wird. "Mit Körperlichkeit und Nacktheit bin ich entspannt aufgewachsen", sagt er und schweigt eine Sekunde, bevor er hinzufügt: "Ich könnte normal sein." Stattdessen könne er nicht in öffentliche Saunen oder Freibäder gehen. Sofort würden die Bilder in seinem Kopf zum Leben erwachen. Früher, bevor das Internet Pornographie allgegenwärtig machte, hat Martin sich Bilder ausgedruckt und mit zur Arbeit genommen, um sie in den Pausen anzuschauen. Immer wenn er Pornos anguckte, masturbierte er. Seine Sucht war - klassischen Süchten nicht unähnlich - eine Abwärtsspirale. Aus Bildern wurden Videos, die Videos wurden immer härter: "Es gibt nichts, was ich nicht gesehen habe."
"Pornographiekonsum aktiviert das Belohnungszentrum im Hirn", sagt Pastötter. Der Botenstoff Dopamin werde ausgeschüttet, es komme zu einem "High". "Doch gleichzeitig verringert sich das Lusterleben", sagt der Experte. "Dann sind stärkere Reize notwendig, um dasselbe zu erleben."Das Verlangen nach härterem Stoff verlangt die Produktion von härteren Videos. Die Regisseure setzen gezielt auch auf aggressive Elemente: Oft sind Lustschreie kaum noch von Schmerzschreien zu unterscheiden. Die öffentliche Wahrnehmung steht dem gleichgültig gegenüber: Sex - in welcher Form auch immer - auf dem Bildschirm ist heute kein Grund mehr, Fragen zu stellen. Von den großen politisierten Debatten der 80er und 90er Jahre hat sich die Gesellschaft verabschiedet. Nur Alice Schwarzer mahnt wie ein Fels in der Brandung. Allerdings dürfte Schwarzers wenig differenzierte Sichtweise und ihre grundsätzlich ablehnende Haltung ihren Teil dazu beigetragen haben, dass sich Menschen mit Interesse an einer Debatte von ihr verabschiedeten.
Jonas und Martins Geschichten sind nur zwei von Millionen möglichen Antworten auf die Frage, was das ansteigende immer leichter auffindbare Angebot von immer härterer Pornographie für unsere Gesellschaft bedeutet. "Das Problem ist, dass Pornographie nur audiovisuell wirkt", sagt Pastötter. "Sex dagegen spricht alle Sinne an." Der Mensch ziehe Lehren aus seinen Erfahrungen, auch aus einseitigen. Pastötter fasst sich kurz: "Wer zuviel Pornos guckt, verwandelt sich in eine enthumanisierten Reiz-Reaktionsmaschine." johannes-boie.jetzt.de
* alle Namen der Betroffenen geändert