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Für Frau M.

Text: Final
Ich fand sie; fand sie gewohnt majestätisch in den Kissen: das Gesicht blass, die Züge endlich entspannt.



Als ich ihr Zimmer das erste Mal betrat, fehlte mir noch die nötige Erfahrung. Ich stellte mich vor und bat sie, mich zu unterstützen.

Seit gut zwei Jahren lag sie, konnte sich nur eingeschränkt bewegen. Sie musste im Bett gepflegt werden. Jede Drehung eine Tortour, jeder ungeschickte Handgriff meinerseits ein unnötiger Schmerz. Die frische Einlage musste sorgsam vorbereitet werden, die alte behutsam entfernt. Das Anlegen dauerte Ewigkeiten -für uns beide.



Sie zählte 95 Jahre und hatte ein Faible für Hesse. Bereits am ersten Tag kamen wir ins Gespräch, sprachen über Siddhartha. Ich von der Dichtung in Prosa, sie vom Pantheismus.

Auf ihrem Nachtkästchen lag „Klingsors letzter Sommer“. Sie hatte noch nicht begonnen. Ihre Augen waren trüb und schmerzten.

Tag für Tag las ich ihr ein Kapitel vor:



Den letzten Sommer seines Lebens verbrachte der Maler Klingsor, im Alter von zweiundvierzig Jahren, in jenen südlichen Gegenden in der Nähe von Pampambio, Kareno und Laguno hin, die er schon in früheren Jahren geliebt und oft besucht hatte...



Sie hatte 11 Kinder und bekam täglich Besuch. Bereits am zweiten Tag brachte ich sie zum Lachen: ein mädchenhaftes, reines und leicht heiseres Lachen. Den Scherz, die Pointe habe ich vergessen. Unwichtig. Bereits am zweiten Tag sah sie die Traurigkeit in meinen Augen, fragte danach. Ich wollte sie nicht belasten, meinte, es sei nichts weiter, schwieg und verzichtete auf ihren erfahrenen Trost.



Aus unbestimmter Ferne her mit müden Schwingen kam Musik geflogen, vielleicht eine Gitarre, vielleicht ein Klavier, nicht zu unterscheiden. In den Geflügelhöfen schrie plötzlich ein Pfau auf, zwei- und dreimal, und durchriss die waldige Nacht mit dem kurzen, bösen und hölzernen Ton seiner gepeinigten Stimme, wie wenn das Leid aller Tierwelt ungeschlacht und schrill aus der Tiefe schellte. Sternlicht floss durch das Waldtal, hoch und verlassen blickte eine weiße Kapelle aus dem endlosen Walde, verzaubert, alt. See, Berge und Himmel flossen in der Ferne ineinander.



Sie war vierzig Jahre lang verheiratet, ihr Mann vor gut fünf Jahren gestorben. Bereits am dritten Tag, sagte sie mir, dass sie sterben wollte. Sie wollte zu ihrem Mann.



Das Leben vergeht wie ein Blitzstrahl,

Dessen Glanz kaum so lange währt,

dass man ihn sehen kann.

Wenn die Erde und der Himmel ewig

unbeweglich stehen,

Wie rasch fliegt die wechselnde Zeit

über das Antlitz der Menschen.

O du, der du beim vollen Becher sitzest

und nicht trinkst,

O sage mir, auf wen wartest du noch?




Mit jedem Tag erfuhr ich mehr über sie. Ich besuchte sie selbst an meinen freien Tagen.

Einmal meinte sie, ich solle meine Mutter grüßen und ihr gratulieren zu ihrem wundervollen Sohn. Ich las ihr an diesem Tag zwei Kapitel vor.



Noch am Morgen glänzten deine Haare

wie schwarze Seide,

Abend hat schon Schnee auf sie getan.

Wer nicht will, dass er lebendigen Leibes

sterbend leide,

Schwinge den Becher und fordre den

Mond als Kumpan!




Am nächsten Tag weigerte sie sich zu essen. Auch am nächsten und übernächsten. Die Infusion war schon lange angesetzt, ihr Wille stärker.



„Ich werde doch wieder malen“, sagte Klingsor, „schon morgen. Aber nicht mehr diese Häuser und Leute und Bäume. Ich male Krokodile und Seesterne, Drachen und Purpurschlangen, und alles im Werden, alles in der Wandlung, voll Sehnsucht, Mensch zu werden, voll Sehnsucht, Stern zu werden, voll Geburt, voll Verwesung, voll Gott und Tod“



Ihr Arzt bat mich um ein Gespräch. Ich wusste Bescheid, bevor er anfing zu sprechen. Er meinte, ich solle mich verabschieden.

Ich hielt ihre Hand und las ihr das letzte Kapitel vor.

Sie sagte: ,Danke‘, ich: ,Auf Wiedersehen‘.



Ich fand sie; fand sie gewohnt majestätisch in den Kissen: das Gesicht blass, die Züge endlich entspannt. Ich hoffe, sie ist jetzt bei ihrem Mann.



Aber du bist auf gutem Wege, wenn Du mir, wenn du Dir selbst jede Empfindung des Herzens eingestehst. Nur nenne keine Empfindung klein, keine Empfindung unwürdig! Gut, sehr gut, ist jede, auch der Hass, auch der Neid, auch die Eifersucht, auch die Grausamkeit. Von nichts anderem leben wir als von unsern armen, schönen, herrlichen Gefühlen, und jedes, dem wir unrecht tun, ist ein Stern, den wir auslöschen.



Ich lernte an diesem Tag eine ihrer Töchter kennen. Ihre Augen kamen mir bekannt vor. Sie schenkte mir das Buch. Ihre Mutter hatte es so gewollt. Ich lese es wieder. Lese Zeile um Zeile in Erinnerung an sie, nur stumm statt laut.






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