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Storyline (1)

Text: Leukothea

Mein Vater ist Alkoholiker. Nicht ein Alkoholiker im eigentlichen Sinne, er trinkt nicht jeden Tag, aber dafür jeden zweiten. Einen Tag saufen, einen Tag Kater, einen Tag saufen … und so weiter. Er wird selten aggressiv, eher depressiv. Dabei habe ich mir, nebenbei gesagt, kürzlich gewünscht, er würde mal so richtig ausrasten und mir eine knallen, damit er aufwacht. Was ein Wunschdenken, ich weiß. Er hat mir keine geknallt. Und er ist auch nicht aufgewacht.



Er wird dieses Jahr 50 Jahre alt, 38 davon ist er schon Trinker. Er will es so, er will es nicht so, er will es wieder so, er kommt nicht davon weg, weil er nicht will, kann, was auch immer. Besonders im betrunkenen Zustand ändert sich diese Meinung von Minute zu Minute, wobei immer wieder unterbrochen von „Du hörst mir nicht zu“ und/oder „Du verstehst mich nicht.“ Ich weiß, dass ich ihm nicht zuhören sollte. Ich weiß, dass es genügt und ausreichend ist, wenn ich ihm den Zettel mit den Nummern der AA´s auf die Tastatur seines Computers lege und gehe. Doch das schaffe ich selten. Das ist schlecht, das weiß ich.



Als ich acht Jahre alt war, verliebte sich meine Mutter in seinen Chef, seinen besten Freund, meinen heutigen Stiefvater. Knall auf Fall zogen wir um, ich kannte den Mann überhaupt nicht. Auf dem Weg zu seinem Haus, wir waren schon in seiner Straße und mit neuer Couch im Laster, fragte ich ein tausendstes Mal, wie er heißen würde. Ich konnte es mir nicht merken. Ich versuchte und versuchte, ich konnte es nicht. Dabei war ich doch so erleichtert gewesen! Sie hatten gestritten, meine Eltern, so oft gestritten – die Nächte im letzten Jahr war ich sogar aufgestanden und hatte die zwei in ihre Betten geschickt. Eine Nacht, ich glaube, Silvester war es, schlug er sie. Bis sie zu Boden ging. Ich entschuldige es nicht, weder verurteile ich es. Es ist das Ergebnis eines Zustandes. Eines Zustandes namens Sucht. Kurz vor der Trennung, mein Vater wusste bereits, dass meine Mutter sich in jemand anderen verliebt hatte, verschwand er einfach spurlos. Für vier Wochen wusste niemand, wo er war – ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, ob meine Mutter die Polizei eingeschaltet hatte. Ich glaube es nicht. Ich vermisste ihn, ich vermisste ihn wirklich und ehrlich, den Trinker, der mein Vater war, den ich entweder betrunken oder verkatert erlebt hatte und der mich gelehrt hat, leise zu sein, leise wie eine Maus, damit ich ihn nicht störte, wenn er seinen Rausch ausschlief. Wenn ich an meine Kindheit in dieser Wohnung denke, dann höre ich nichts. Kein Kinderlachen, kein Küchenklappern, nur Stille.



Meine Mutter und ich, wir wohnten ein paar Monate bei meinen Stiefvater, dem unheimlichen Mann, den ich nicht kannte, da trat uns mein Vater im Suff die Haustür, eine schwere Eichenholztür, ein. Nun ja, nicht komplett, aber sie war gerissen. Meine Mutter kam in mein Zimmer, sagte mir, dass er draußen stünde, mein Stiefvater auf der anderen Seite, ihn beruhigend. Und sie hätte bereits die Polizei gerufen. Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, ich weiß noch, wie mich die Eiseskälte durchzog und mein Hals zugeschnürt war. Er verbrachte die Nacht in der Ausnüchterungszelle. Eine der schlimmsten Nächte meines Lebens. Ich entfremdete mich ihm. Wann immer ich ihn sehen wollte, ging ich in seine Stammkneipe, an jedem zweiten Wochenende trank er nicht, da liehen wir uns gefühlte tausend Filme aus und machten nichts anderes, als auf den Fernseher zu schauen. Als dieser an einem Wochenende kaputt ging, mussten wir schnell in den Elektroladen fahren, um einen neuen zu kaufen. Als dieser nach 30 Minuten Betrieb auch den Geist aufgab – man kann an Fügung denken – da brachten wir den in Reparatur und liehen uns einen anderen. Ab dem Zeitpunkt wurde wieder geschaut. Gesprochen haben wir dabei nie.



Mit zehn Jahren hatte ich irgendwann genug Vertrauen in meinen Stiefvater gefasst, um auch mal einen Scherz mit ihm zu machen und es kam die Zeit, in der ich am Wochenende morgens mein Bett verließ, um in das meiner Mutter zu schlüpfen, wo wir erzählten, lachten, uns kitzelten. Irgendwann stand sie auf, um zu duschen und das Frühstück zu bereiten. Dann waren mein Stiefvater und ich alleine im Bett. Es ist ein Klischee, ich weiß und Ihr alle werdet wissen oder ahnen, was ich gleich schreiben werde. Anfangs habe ich die Schuld bei mir gesucht, bis ich begriff, fast zu spät, dass ich keine Schuld habe. Ich habe keine Schuld. Jahrelang habe ich mir gesagt, es wäre nicht schlimm gewesen, was passiert ist, er hat mich schließlich nicht vergewaltigt. Er hat mich nur angefasst. Nur. Ich war so jung, klein, ich hungerte so nach einem Vater, meinem Vater, nach Liebe, nach irgendwas. Ich wusste, was da geschah, das war nicht richtig, wenn ich aufstand und seine Erektion sah, da wusste ich, das ist nicht recht, da stimmt was nicht, das kann nicht sein. Doch ich konnte doch keinem davon erzählen! Meinem Vater? Dem alkoholkranken, der uns schon die Türe eintreten wollte? Meiner Mutter, die endlich wieder lachen konnte und nicht mehr heulend am Küchentisch saß, weil sie nicht wusste, wie sie das Brot für ihr Kind bezahlen sollte? Ich vertraute mich meinem Hund an, einem riesigen Mischlingsrüden, der mich immer beschützt hatte, außer in diesen Situationen. Wie denn auch, wenn ich mich nicht äußerte. Doch irgendwann, da erzählte ich es meiner Oma. Doch die sagte nichts. Es ging weiter. Ich blieb an den Wochenende dem Bett fern, meine Mutter war traurig deswegen, wusste sie doch den wahren Grund nicht. Doch traurig sein, das durfte sie meiner Ansicht nach nicht, also ging ich wieder hin. Es geschah wieder. Ich wollte wegrennen, ich wollte mich umbringen. Meine Mutter erwischte mich mit einem großen Küchenmesser und nahm es mir weg, ab da war ich unter Bewachung. Wir gingen zum Schulpsychologischen Dienst, ich wollte meine Mutter nicht vor den Kopf stoßen und ließ sie bei den Gesprächen beiwohnen. Doch da konnte ich mich ja nicht komplett öffnen. Ich durfte sie doch nicht enttäuschen und traurig machen.



Es kam ein Urlaub im Süden, ich war monatelang nicht mehr mit im Bett gewesen, irgendwann hatte ich den Absprung einfach geschafft, weil ich es nicht mehr aushielt. Ich habe mich schlafend gestellt oder bin schon früh morgens mit dem Hund raus gegangen und weggeblieben. Jedenfalls, in dem Urlaub, beim Spiel im Pool mit einer befreundeten Familie, da geschah es wieder. Ich verließ fluchtartig das Wasser, doch meine Mutter merkte, dass etwas nicht stimmte. Sie folgte mir und stellte mich zur Rede. Sie ging nicht weg, drängte, also sprach ich. Sie war bestürzt, enttäuscht, sagte mir, dass dies nicht meine Schuld gewesen wäre und ging. Tags darauf kam sie wieder zu mir. Sie hätte meinen Stiefvater zur Rede gestellt, es täte ihm Leid, er wüsste nicht, wie ihm das passieren konnte, es würde nie wieder geschehen, er entschuldige sich. Danach wurde dieses Thema nie wieder auf das Tapet gebracht, es war verboten, weil geklärt. Für jeden, außer für mich.



Ich kam in die Pubertät, mein Hund starb. Ich hatte ihm geschworen, ihm zu folgen, wenn er sterben würde. Doch als es soweit war, nennt es meinetwegen feige oder was auch immer, da merkte ich, dass das Leben schön geworden war, nicht mehr ganz so beschwerlich. Ich wollte es noch mal versuchen. Ich wusste, von meinem besten Freund, meinem Hund, hatte ich den Segen, andere Hundebesitzer unter Euch mögen mich verstehen. Ein Tier versteht einen und die Verbindung bleibt immer bestehen. Ich bekam meinen ersten Freund, irgendwann kam auch wieder eine Hündin in die Familie, in meine Arme. Sie sollte meine engste Verbündete für die nächsten Jahre werden, wir verstanden uns ohne Worte, so nah waren wir uns. Immer zusammen, nie allein.



Mit 17 verliebte ich mich in einen Jungen. Er war liiert, in meiner jugendlichen Naivität war es mir egal, wofür ich mich immer noch schäme. Jedenfalls, ich war verliebt, suchte seine Nähe, er meine. Es kam ein Wochenende, an dem wir bei Freunden übernachteten, Sekt tranken, mehrere Joints rauchten. Ich ließ mich mit der Atmosphäre mitreißen, fand mich nackt wieder, was ich – ehrlich betrachtet – durchaus auch mit herbeigeführt hatte. Wir wollten es beide, bis zu dem Zeitpunkt, an dem es weiter gegangen wäre. Da bin ich aufgewacht und sagte Nein, mein erstes Nein in meinem Leben. Er akzeptierte es nicht und machte weiter.



Es interessierte mich nicht, ich hatte es nicht anders verdient. Dachte ich. Also zog ich mich von allen zurück und war allein. Stand mir niemand nah, so konnte mich auch niemand verletzten. Ich dachte, nun hätte ich es doch versucht, folge ich meinem ersten Hund eben jetzt. Aber ich konnte doch meine Hündin nicht alleine auf dieser schlimmen Welt lassen – wem hätte sie denn vertrauen können, wer hätte sie beschützt außer mir? Also blieb ich.



Mit 18 brach ich die Schule ab. Ich war gut zwei Jahre eh nicht mehr hin gegangen. Ein Wunder eigentlich, dass ich nicht im Drogenmilieu hängengeblieben bin. Vielleicht lag es an der Sucht meines Vaters, dass es mich nie dorthin zog. Ich habe getrunken, ja, ich habe auch gekifft. Doch ich habe immer meine Grenze gekannt und nie harte Drogen ausprobiert. Wurde es schlimm, fühlte ich mich schlecht, wollte ich weg, nahm ich mir meinen Hund und wir gingen weit in den Wald hinein, nachdenken, Stundenlang.



Bevor ich die Schule abbrach, wohnte ich zwei Wochen bei meinem Vater. Ich wollte nachdenken, fern von meiner Mutter, die mich nicht verstand, die ich nicht verstehen konnte. Ich hatte vergessen, wie es war, mit einem Trinker unter einem Dach zu wohnen. Er verschwand, er tauchte wieder auf, ich suchte ihn, fand ihn nicht, er tauchte auf, sternhagelvoll, immer sternhagelvoll. Wir sprachen, wir diskutierten, ich war verzweifelt, wusste nicht weiter. Heute vermag ich zu vermuten, welch eine Wortwahl, dass ich mit dem Schule schwänzen und abbrechen Aufmerksamkeit gesucht habe. Doch keine bekam. Ich brach ab.



Wie durch ein Wunder bekam ich im selben Jahr eine sehr gute Ausbildungsstelle, die ich auch abschloss, ich blieb in der Firma, begann ein BWL Studium. Zu Beginn der Ausbildung lernte ich einen jungen Mann kennen, der, anders als die anderen, wirklich bei mir bleiben wollte. Es war mir zur Gewohnheit geworden, Affären zu haben. Zwar nie parallel, aber dennoch nie länger als zwei Wochen. Ein paar Mal ins Bett, dann schoss ich sie wieder ab. Dass ich Liebe suchte, war mir damals nicht klar. Jedenfalls, dieser Mann, der schlief die erste Nacht bei mir und blieb einfach. Ich schaute zu und dachte, gut, lass ihn mal machen, es wird schon was bei herauskommen. Wir blieben 4,5 Jahre zusammen, wohnten zusammen, voller Höhen und Tiefen. Er glaubte mir nicht, als ich ihm von dem erzählte, was mir passiert war. Wer sollte mir denn auch glauben, das sind ja fast ein paar Geschichten zu viel. Aber so war es. Er verbrüderte sich mit meinem Stiefvater. Als ich ihn verließ und er auszog, warf mir mein Stiefvater noch Jahre danach vor, ich hätte seinen besten Freund rausgeworfen. Ob zum Spaß oder nicht, ich wollte es nicht hören, weder damals noch heute. Wir hatten das Obergeschoss des Hauses meiner Mutter und meines Stiefvaters ausgebaut, mit meinem Geld. Nun saß ich dort fest, ich konnte nicht ausziehen. Ich wollte nicht ausziehen, da ich über Tag arbeiten musste und irgendwer tagsüber meine Hündin raus lassen musste. Ich weiß jetzt, es hätte Mittel und Wege gegeben. Auf irgendetwas habe ich gewartet, ich weiß nur nicht, auf was.



Dies ist nun weitere vier Jahre her, in wenigen Monaten werde ich 27. Meine Hündin ist letztes Jahr gestorben, meine Verbündete, mein zweites Ich. Ich zog aus. Im Dezember wollte ich mich umbringen. Ich hätte ihr folgen können, so wie meinem ersten Hund. Selbst das Leben war nicht schöner geworden. Ich hielt mit meinem Auto, meinem geliebten Auto, auf einen Abgrund zu und riss im letzten Moment das Steuer herum. Das erste, was ich dann spürte außer Atemlosigkeit, war Enttäuschung. Weil ich es nicht getan hatte.



Ich hatte zwei Jahre zuvor schon einen Therapeuten eingeschaltet, dachte, ich müsste etwas gegen diese seltsamen Panikattacken machen, die mich immer wieder überkamen. Sobald sich eine ankündigte, sprang ich in mein Auto und fuhr, viel zu schnell und waghalsig, über die Autobahn. Immer mit dem Gedanken im Kopf, wenn mir etwas passiert, dann soll es eben so sein. Es geschah nie etwas. Auf einer Raststätte, 40 Kilometer weit entfernt, hielt ich immer an. Ich blieb so lange, bis ich meinte, wieder eintauchen zu können in das Leben. Bis alle Tränen getrocknet und jedes Make Up wieder gerichtet war. Denn was ich noch nicht erzählt habe, was man jedoch vielleicht erahnen kann, ich bin eine echte Frohnatur, oft am lachen, schlagfertig, zu Scherzen aufgelegt. Wenige kennen mich so, wie ich tatsächlich bin.



Mein Therapeut therapierte mich, sprach über Grenzen, Vertrauen, das Wort Nein, verlängerte die Langzeittherapie um eine weitere Langzeittherapie, die sogar von der Krankenkasse bewilligt wurde, und es geht mir besser. Langsam, aber stetig.



Dies ist das erste Mal, dass ich alles aufschreibe, dass ich darüber spreche, dass ich Gefühle hineinfließen lasse, anstatt meine Geschichte vorzulesen wie aus einem Buch. Ich bin am Ende. Ich bin am Anfang.



Ich habe nun so viel geschrieben und könnte noch ewig weiter machen. Die einzigen Male, bei denen ich eben beim Schreiben geweint habe, waren übrigens die Passagen mit meinen Hunden. Nun auch wieder, sie bedeuteten mir alles auf der Welt. Alles, was mir selbst geschieht, berührt mich kaum mehr.



Seit meiner letzten Trennung bin ich solo. Ich möchte nichts neues, ich mag es nicht mal versuchen. Niemanden um mich herum haben, nur allein sein.



Meine Mutter hat meinen Stiefvater an ihre erste Stelle gestellt. Mein Vater hat seinen Alkohol immer noch an erster Stelle.

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