Hintertürchen
Von außen betrachtet, sieht das alles ganz schön toll aus. Das Leben. Mein Leben. Da stehe ich nun mit meinem Vorzeige-Job, meiner Vorzeige-Wohnung, meinem Vorzeige-Auto und meiner Vorzeige-Beziehung. Ich habe soviele Vorzeige-Objekte, dass es mir schwerfällt mich über jedes einzelne noch zu freuen, dabei habe ich mir jedes von denen so hart erarbeitet. Aber wie so oft, wenn es um das Vorzeigen geht, ist alles mehr Schein als Sein. In einer ruhigen Minute betrachtet, schmeckt all das zusammengenommen recht fade, das Gefühl angekommen zu sein, weicht schnell dem Gefühl kein Ziel mehr vor Augen zu haben.
Noch schlimmer ist die Monotonie. Denn hinter der Fassade ist es jede Woche das Gleiche. Wir mühen uns für einen Job ab, der es insgeheim nicht einmal wert ist und fragen uns dann, warum man sich das alles antut. Abends sitzt man in irgendeiner fremden Stadt bei irgendeinem schlechten Mexikaner und trinkt ein Glas irgendwas zusammen mit den Kollegen, um anschließend viel zu spät in irgendein fremdes Hotelbett zu fallen. Aber an diesem einen Abend, da war plötzlich alles ganz anders. Es war der Abend, an dem ich ein Hintertürchen fand.
Ein sehr unkonventionelles Hintertürchen. Denn von außen betrachtet, ist er eine Nervensäge. Die meisten Frauen haben für Alpha-Männchengehabe im Berufsleben wenig über und dem schließe ich mich gerne an. Darüber hinaus bin ich auch noch diejenige, die ihm viel zuarbeiten muss und seine Launen und gelegentlichen Wutausbrüche zu ertragen hat. Ich sage ja, er ist eine Nervensäge. Das war er auch an diesem Abend. Es war einer dieser Abende, an dem wir in großer Kollegen-Runde essen waren und welche sich zufallsbedingt recht plötzlich auflöste. Und da saß ich nun mit der Nervensäge alleine und sah mich einer sehr gequälten beruflichen Diskussion gegenüber. Tatsächlich sah ich mich 20 Minuten später einer ganz anderen Situation gegenüber, welche damit endete, dass ich ihn mitten in der Nacht aus meinem Zimmer geschmissen habe. Ich kann mich noch an das verschmitzt lächelnde Gesicht erinnern, welches mich danach im Badezimmerspiegel ansah und zu welchem ich sagte "Du warst ein böses Mädchen heute....".
Dieser Abend hing mir lange nach. Tatsächlich hatte ich Bilder im Kopf. Bilder von ihm, von uns in dieser surrealen Situation. So ungeplant wie das Ganze war, so perfekt war es auch. Es war eine solch ungewohnte Leidenschaft in all dem, das ich noch Tage später seinen Geruch in der Nase hatte und seine Hände auf meiner Haut gespürt habe. Eine Zeit lange hatte ich Angst mich zu verlieben. Was wäre dann geworden? Wieder das Herz an den Falschen verschenkt? Nein, das wollte ich nicht.
Daher sollte es auch eine einmalige Sache bleiben, schließlich war es allem voran falsch. Außerdem hatten wir beide arge Bedenken, was den nächsten Bürotag anging. Umsonst, wir haben es gut gemeistert. Der Mann, der mir am nächsten Tag begegnete, war nicht der, der mir eine solch kurz(weilig)e Nacht bereitet hatte. Das Leben ging weiter, alles normalisierte sich, nur der Gedanke an das Hintertürchen, welches mir die Möglichkeit eröffnet hatte, mich außerhalb der engen Grenzen meines geregelten Lebens zu bewegen, das blieb.
Vielleicht hat mich genau das dazu veranlasst unseren kleinen Pakt zu brechen, denn einige Wochen später habe ich mich revangiert. Ich, die vorsichtigste Frau der Welt mit all ihren moralischen Prinzipien, nahm es sich raus, den Chef zu küssen. Ich hatte nicht einmal darüber nachgedacht. Untypisch für mich, bin ich doch auch eine dieser "thirty-something"-Mädels, die so fest mit beiden Beinen im Leben stehen, dass wir für alles einen detaillierten Plan haben und auf jedes Problem top vorbereitet sind. Wir können alles meistern, außer wir sehen uns mit der Situation konfrontiert, dass der Falsche für unser Lebensprojekt "Nestbau" vielleicht genau der Richtige ist für das Projekt "sei doch mal alles, außer Du selbst". Dennoch bringt uns soetwas gänzlich aus dem Konzept, denn es passt nicht in unsere Welt. Sex ist schließlich keine Triebbefriedigung, sondern eine Gefühlssache. Und Gefühlssachen gehen nur mit diesen netten, humorvollen, liebenswerten, vertrauenswürdigen Supermännern, die wir uns als Traumprinz ausmalen. Eine Rolle, für die er gänzlich untauglich ist.
Trotzdem ist all das in der Zwischenzeit wieder passiert. Und wieder. Ungeplant und ungewollt, dennoch ist es passiert. Ich habe böse Dinge getan, mein perfektes Leben mit dem unperfekten Kerl betrogen, nur damit für zwei, drei Stunden einmal jede Ordnung verschwimmt. Und ich hatte versucht mir ein schlechtes Gewissen abzuringen. Daran bin ich jedoch gänzlich gescheitert. Gern würde ich es falsch finden, ich tue es aber nicht. Zugegeben - ich habe mich ein klein wenig verliebt. Verliebt in die Möglichkeit für eine kurze Zeit jemand zu sein, den ich eigentlich nicht besonders gut kenne, der aber offenbar über all meinen Erfahrungen, Erlebnissen, Vorurteilen und Hemmnissen steht. Wie gesagt, ich kenne diese Frau nicht besonders gut, aber mein Gott, sie ist mir wirklich sympathisch.
Im Film Serendipity wird die Weisheit verkündet "Die alten Griechen haben nie Nachrufe geschrieben. Sie haben nur eine Frage gestellt, wenn jemand gestorben war: hatte er Leidenschaft gekannt?“ Nun, wenn es nach den alten Griechen ginge, dann kann ich diese Frage heute mit einem lächelnden "yep" beantworten. Soll ich mich deswegen schlecht fühlen? Ganz bestimmt. Auf der anderen Seite: Irgendwas muss doch dran sein, an dem Spruch: "gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin."