Wenn nicht Indien - wo dann? Über Leben und Arbeiten in der größten Demokratie der Welt.
Es sind mittlerweile drei Jahre vergangen, seitdem ich nach Delhi, Hauptstadt Indiens und 17-Millionen-Metropole, gezogen bin. Bis heute hat meine Faszination für diese verrückte, pulsierende Hinterlassenschaft unzähliger Invasoren (die Engländer gestalteten nur den letzten dramatischen Akt mit der Ernennung Delhis zur Hauptstadt des British Raj im Jahre 1931) an nichts verloren. Generell gilt: Indien nährt von seiner 2000 Jahre alten Geschichte, ist trotzdem fest im Zentrum der Gegenwart verankert und gestaltet mit einer rapide wachsenden Bevölkerung von derzeit 1,3 Milliarden Menschen bei einem gleichzeitigen Durchschnittsalter von 23 Jahren seine (und damit auch unsere) Zukunft. Der Elefant kommt in Fahrt; alles scheint im Wandel: Märkte, Gesetze, soziale Gepflogenheiten. Ich kann mir derzeit keinen spannenderen Ort auf dieser Welt vorstellen, in dem ich leben und arbeiten möchte. Wie es dazu kam? Purer Zufall – und ein bisschen Mut.
Noch während meines Studiums bin ich 2008 bei einem Start-Up als Direktor eingestiegen und Hals über Kopf nach Indien gezogen. Mein Studium der Politikwissenschaft am Südasien-Institut der Universität Heidelberg zog die theoretische Grundlinie, doch als ich das Angebot erhalten habe, bei einer Unternehmensberatung mit Schwerpunkt Erneuerbare Energie in Neu Delhi zu arbeiten, habe ich mich ohne Kalkül, aber mit viel Bauchgefühl spontan dafür entschieden. Ja, sicher, ich war davor schon oft im Rahmen meines Studiums in Indien. Stimmt, ich kannte bereits die gängigen kulturellen Gepflogenheiten, verstand die überregionalen Bräuche der Hindus, die mit 82% die religiöse Mehrheit bilden, und konnte die Meilensteine indischer Unabhängigkeits-Geschichte selbst im Schlaf wiedergeben. Doch in Indien privat und beruflich Fuß zu fassen, bleibt eine Herausforderung.
Indien boomt – und steht sich dabei manchmal selbst im Weg.
Mit einer Wachstumsrate von durchschnittlich 8% entwickelt sich Indiens Wirtschaft rasant. Auch die Krisen an den internationalen Finanzmärkten haben diese Kontinuität nur marginal beeinträchtigt. Bis 2025 wird Indien voraussichtlich zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen und mit 17% einen beachtlichen Teil zur Weltwirtschaft beitragen. Seit Öffnung der Märkte im Jahr 1991 hat Indien den Weg der Liberalisierung eingeschlagen; und das mit nennenswerten Erfolgen. Generell steigt das Wohlstandsniveau stark an, die Analphabeten-Rate sinkt, und Auslandsinvestitionen werden im großen Stil getätigt. Immer mehr internationale Firmen bauen ihre Standorte in Indien auf bzw. erweitern sie massiv. Andererseits machen Armut, vor allem in den ländlichen Gegenden, knappe Ressourcen wie Wasser und Elektrizität, massive Umweltverschmutzung sowie ein vielschichtiges kulturelles System Indien zu einem Land voller ethischer, emotionaler und organisatorischer Herausforderungen.
So ist das Land zum Beispiel nicht umsonst für seine wahnwitzige Bürokratie bekannt. Einfache Prozesse, wie etwa die Registrierung einer Firma, das Eröffnen eines Bankkontos oder die Anmeldung im lokalen Einwohnermeldeamt, können wahrhaft kafkaeske Formen annehmen. Die vielen Dokumente, die es auszufüllen gilt, verschwinden in riesigen Papier-Archiven, da ein Großteil der offiziellen Institutionen noch nicht vollständig computerbasiert arbeiten. Das schafft Arbeit – für alle Beteiligten. Indiens Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft stehen daher vor der massiven Herausforderung, ko-operative Reformen einzuleiten, um Bildungsmöglichkeiten für die stark ansteigende Bevölkerung sowie Jobs zu schaffen, Armut zu reduzieren und Wachstum nicht auf Kosten von Natur und kultureller Vielfalt aufzubauen. All diese Herausforderungen spiegeln sich auch in meinem täglichen Berufs- und Privatleben wieder. Ein allgemeines Erfolgsrezept? Harte Arbeit, viel Improvisationstalent – und eine ordentliche Portion Humor gegen das Chaos des Alltags.
Über Humor, starke Mägen und andere überlebenswichtige Eigenschaften.
Gepaart mit einer hohen Frustrationstoleranz ist Humor neben Neugier, echtem Interesse und Akzeptanz in der Tat eine entscheidende Voraussetzung, sich in Indien langfristig wohlzufühlen. Überall auf der Welt öffnet gemeinsames Lachen Türen und Herzen und kann brenzlige Situationen entschärfen und Indien ist –ausnahmsweise– keine Ausnahme. Wer entertaint, ist mit dabei – diese Formel habe ich mir zu Herzen genommen. Denn Humor ist eine der entscheidenden Grundlagen für Beziehungen und Freundschaft, und ohne die geht in Indien in der Regel wenig. Wo, wenn nicht hier, kann sich Lach-Yoga ernsthaft durchsetzen? Der Trend begann mit Herrn Madan Kataria in Mumbai. Seine Mission: Der Anstoß einer globalen ‚Lach-Epidemie’, die sich positiv auf unsere Gesundheit und sogar unser Bankkonto auswirkt und nebenbei auch noch den Weltfrieden herbeikichern soll. Sein Club in Mumbai ist kult-verdächtig und heute existieren schätzungsweise 2500 Lach-Yoga-Clubs auf der ganzen Welt, viele davon in Indien. Wer seinen morgendlichen Spaziergang, zum Beispiel in einem der Parks in Delhi unternimmt, stößt regelmäßig auf ältere Menschen, die sich in kleinen Grüppchen vor Lachen biegen. In Deutschland habe ich selten Senioren gesehen, die so gut drauf waren.
Grundsätzlich gehören in Indien viele Abendessen, lange und tee-intensive Meetings sowie Netzwerken bei allerlei Veranstaltungen und Kongressen zum notwendigen Tagesgeschäft. Doch auch etwa meinem Vermieter und seiner Familie statte ich wöchentliche Besuche ab, die eine Stunde oder länger dauern. Neben der Plauderei über Familie, Nachbarn, Beruf, Freunde, Partner, Familie des Partners, Haustiere und Politik eine gute Möglichkeit, sich an all den Knabbereien, die im Akkord gereicht werden, satt zu essen. „Have more! Have more!“ So ein Nachmittag kann schon mal ein ganzes Abendessen ersetzen. Das „Füttern“ der Gäste ist eine der vielen wunderbaren Eigenheiten, die auch mit dem Einzug des modernen Lifestyles hartnäckig geblieben sind. Nur die Art der Snacks haben sich verändert: Wurden früher selbstgebackene Süßigkeiten gereicht, sind es nun die eingeschweißten kalorienreichen Varianten. Kein Wunder also, dass die Zahl übergewichtiger Mittelstandsfamilien in Indien ständig ansteigt.
Es gilt also: Um an Indien langfristig Freude zu haben, bedarf es an ehrlichem Interesse und Neugier für Land, Kultur und Menschen. Nur wer des Landes kulturelle Absurditäten lieb gewinnt, wird sich hier langfristig wohlfühlen und Freunde finden. Akzeptanz statt Urteilen lautet die Devise; und Vergleiche mit der Heimat Deutschland machen eh nur unglücklich. Ich persönlich hatte großes Glück und habe schnell gute Freunde gefunden, die mir auch heute noch auf die Sprünge helfen und Situationen erklären, die als Ausländer auf Anhieb nicht verstehen kann. Oftmals sind es Momente, in denen Indiens vielschichtiges Kasten- und Ordnungswesen zum Tragen kommt oder unüberbrückbare Sprachbarrieren auftreten. Die hilft auch, das gelegentlich auftretende Heimweh klein zu halten – denn wer vermisst nicht langjährige Freunde und Familie oder träumt, wie in meinem Fall, nicht ab und zu von einem saftigen Schnitzel? Doch nichts zieht mich zurück nach Deutschland, bin ich auch beruflich regelmäßig dort und pflege intensiv den Kontakt nach Hause. In den letzten drei Jahren habe ich wahnsinnig tolle Menschen in Indien getroffen, viel über mich und Deutsch-Sein aus einer anderen Perspektive gelernt und natürlich eine aufregende Entdeckungsreise in ein Land angetreten, dass sich täglich neu zu erfinden scheint. Das Gefühl am Puls der Zeit zu sein, belebt und erfrischt – und wird mich auch die nächsten Jahre hier halten.
Die etwas andere indische Arbeitswelt oder: Erfolgskriterien.
Was mich ich ebenfalls in Delhi, halten wird, ist mein neuer Job. Seit kurzem baue ich das Indien-Geschäft für eine deutsche Kommunikationsagentur auf. Eine Firma in Indien zu gründen und aufzubauen ist eine massive Herausforderung; viele Tücken und Hindernisse lauern auf dem Weg. Darum habe ich in einem kürzlich erschienen Artikel für die indische Nachhaltigkeits-Plattform „Think to Sustain“ über Erfolgsfaktoren im indischen Markt berichtet, die auf meinen Erfahrungen der letzten drei Jahre beruhen. Hier eine kurze Zusammenfassung:
- Ein Land – viele Märkte: Wer in Indien erfolgreich sein möchte, muss verstehen, dass das Land kein großer homogener Markt ist. Jeder Bundesstaat ist individuell vor dem Hintergrund einer eigenen sozio-ökonomischen und politischen Dynamik zu verstehen. Die Unterschiede liegen nicht nur in verschiedenen Sprachen und Dialekten, sondern auch in ihrer historischen Entwicklung. Daher hat sich Englisch -neben 16 weiteren- als offizielle Amtssprache und daher auch als gängige Geschäftssprache auch unter Indern aus Nord und Süd etabliert.
- Zugang zu Informationen: Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren für den indischen Markt ist der Zugang zu entscheidungsrelevanten Informationen. In Indien sind der öffentliche, private und zivile Sektor bislang nicht ausreichend vernetzt. Gesetze und Richtlinien werden von Bürokraten verfasst, die oftmals die Anforderungen und Bedürfnisse nationaler sowie internationaler Firmen an den indischen Markt nicht verstehen. Zudem ist es aufgrund der Vielzahl an Dokumenten und Unterlagen kaum möglich, basierend auf einer reinen Schreibtisch-Recherche den Markt und seine Rahmenbedingungen zu verstehen. Kurz gesagt: Wer ‚Doing Business in India’ verstehen will, muss vor Ort sein!
- Zugang zu Netzwerken: In Indien gilt: Erst der Mensch, dann das Geschäft“. Netzwerke schaffen Vertrauen und sind sowohl ein Resultat traditioneller Normen, wie auch eine praktische Notwendigkeit in einer sich schnell verändernden Gesellschaft mit einem undurchsichtigen Rechtssystem. Vertrauen ist in Indien die Grundvoraussetzung für erfolgreiche Zusammenarbeit – und Tee trinken daher Teil der Erfolgsstrategie.
- Einbindung des informellen Sektors: Etwa 93% der arbeitenden Bevölkerung Indiens arbeitet in informellen, außervertraglichen Arbeitsverhältnissen. Viele dieser Menschen arbeiten in der Landwirtschaft, in Kleinindustrien oder im Bau. Diese informellen Jobs bilden die Stütze des indischen Systems und sind äußerst wichtig für den reibungslosen Ablauf vieler Geschäftsprozesse. Wer in Indien erfolgreich sein will, muss lernen, den informellen Sektor gewinnbringend in seine Geschäftsstrategie einzubinden, ansonsten sind logistische Probleme vorprogrammiert.
- Skaleneffekt nutzen: Wer es schafft, auf Basis eines ersten Projektes ein replizierbares Geschäftsmodell zu entwickeln, für den kann der indische Markt mit seiner Größe und Dynamik sehr interessante Geschäftsmöglichkeiten bieten. Skalierung funktioniert in Indien vor allem dann, wenn man Produkte schafft, die den Bedürfnissen der indischen Kundschaft, z.B. durch niedrige Preise entsprechen. Dies hat zum Beispiel der indische Mobilfunkanbieter Bharti Airtel erkannt, der den weltweit günstigsten Mobilfunktarif anbietet und statt Preisstrategie auf Verbreitung-Taktik gesetzt hat. Heute ist Airtel einer der größten Telefonanbieter der Welt.
- Geduld haben: Meine Erfahrung des indischen Arbeits- und Lebensumfelds hat gezeigt, dass Prozesse in der Regel wesentlich mehr Zeit beanspruchen, als eingeplant war. So dauert es zum Beispiel sehr lange, bis aus einem Gespräch ein Vertrag entsteht, und man muss in der Regel viel Zeit investieren, Deals klar zu machen. Für mich hat das konkret bedeutet, viel unterwegs zu sein, um Präsenz zu zeigen, Kunden, Multiplikatoren und Medienvertreter zu treffen. Nur wer zum Namen ein Gesicht im Kopf hat und mit klaren und starken Produkten auftritt, schafft den Durchbruch.
- Gute Teams aufbauen: Auch der Aufbau eines guten Teams vor Ort hat viel Zeit und Lehrgeld gekostet. Auf eine Job-Ausschreibung erhielten wir im Schnitt bis zu 600 Bewerbungen – doch davon waren schätzungsweise 1-2% zu gebrauchen. Indien verfügt über einen immensen Pool an Talenten, doch diese zu finden, ist wahre Kunst. Kein Wunder also, dass uns viele europäische Firmen baten, auch für sie Personal ausfindig zu machen! Die Arbeit in einem indisch-deutschen Team erfordert viel Geduld und Geschick, die interkulturellen Tücken zu umschiffen. Ich habe etwa viele Projekte mit deutschen Kunden in Indien gemanagt. Oftmals habe ich mich geärgert, wenn das Verständnis von Qualität, fixen Deadlines oder Systematik, zum Beispiel in der Dokumentation, fundamental unterschiedlich war. Viel Zeit und Training war nötig, dieses Verständnis anzugleichen. Doch auch hier gilt: Mit Humor, harter Arbeit und Improvisationstalent ist auch all dies zu meistern.
Alles – und ein bisschen mehr.
Lange Rede, kurzer Sinn: Indien ist ein Land, das mich auch nach drei Jahren herausfordert und mitunter sehr anstrengend sein kann. Man kommt nur langfristig klar, wenn man sich bewusst auf die Gegebenheiten vor Ort einlässt: Annehmen statt Urteilen lautet daher mein Mantra. Noch immer fasziniert mich die Dynamik des Landes und seiner Bewohner, ihre Schnelligkeit und Flexibilität, die Vielfalt in Kultur, Natur und Lebensstil, der Humor der Menschen, mit denen ich arbeite und lebe. Es bleibt spannend – und genau deshalb war die Entscheidung, nach Indien zu kommen, für mich genau die richtige. Denn auch hier gilt: Wer viel gibt, bekommt viel zurück – und in Indien manchmal sogar noch ein bisschen mehr.
