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Warum haben alle Frauen ab einem bestimmten Alter die gleiche Frisur?

Text: ninasahm

Die Frage verfolgt Carla schon seit Tagen. Während einer Autofahrt durch die Stadt bleibt sie an einer roten Ampel stehen und beobachtet die Passanten. Und tatsächlich: Alle Frauen jenseits der 50 tragen eine nahezu identische Frisur. In der Fußgängerzone überprüft sie das Phänomen erneut. Und findet Bestätigung. Ab einem gewissen Zeitpunkt scheinen Frauen ihre langen Haare gegen einen Schnitt einzutauschen, der dem Motto “kurz, praktisch, gut” folgt. Nur warum? Wurden die Haare ab einem bestimmten Zeitpunkt einfach zu dünn für lange Frisuren? Oder priesen die Friseure den Schnitt als einzig tragbare Variante an, weil die Ü50-Kunden dann regelmäßiger in den Friseursalon eilten?



Die Frage geht Carla selbst nachts nicht aus dem Kopf. Sie träumt, dass sie von einem Friseur mit überdimensional großer Schere verfolgt wird. Oder sie wacht schreiend auf, weil sich ihre Haare im Traum in einen praktischen Kurzhaarteppich verwandelt haben. Wenn sie morgens aufwacht, überprüft sie als Erstes im Spiegel ihr Aussehen. Ihr Mann schüttelt nur den Kopf. Ob sie keine anderen Sorgen habe? Sie verneint. Die zunehmende Anzahl an Falten und die Orangenhaut an den Beinen sind für sie eine natürliche Alterserscheinung. Die Kurzhaarfrisur hingegen deutet einen Gesinnungswandel an, der ihr fremd und bedrohlich vorkommt. Würde sie eines Tages wie ein ferngesteuertes Auto durch die Tage gleiten während ihr Unbewusstes eine kuriose Entscheidung nach der anderen fällte?



Als sie mittags in der Kantine mit einem neuen Kollegen essen geht, schätzt dieser sie um zehn Jahre jünger. Sie klärt ihn strahlend auf. Er vermutet, dass sie dann sicher schon Kinder habe. Sie verneint. Ob bei ihr keine Uhr ticke? Sie verneint wieder. Das restliche Essen schluckt sie schneller herunter als sonst. Während sie zu ihrem Büro läuft denkt sie noch einmal über die Frage des Kollegen nach. Hört in sich hinein. Nein, da tickt keine Uhr. Und die Frage verfolgt sie nicht. Das Einzige was ihr nicht aus dem Kopf geht, ist diese ominöse Kurzhaarfrisur.



Würde Sie eines Tages aufwachen, schnurstracks zum nächsten Friseur laufen und eine halbe Stunde später mit einem Ü50-Kurzhaarschnitt auf der Straße stehen? Würde sie den Verlust ihres guten Geschmacks überhaupt bemerken? Oder lag dem Ganzen ein Gruppenzwang zu Grunde und man würde sie ab einem gewissen Alter für ihre langen Haare verspotten?



Als sie später all diese Fragen ihrem Mann stellt, seufzt dieser nur. Ob sie nicht lieber den männlichen Haarausfall studieren wolle? Er fände sein nahendes Schicksal bedeutend schwerer zu ertragen. Sie weiß, dass er Recht hat. Und widerspricht ihm umso vehementer. Am Schreibtisch setzt sie einen mehrseitigen Vertrag auf. Eilt aus dem Haus. Ihren ratlosen Friseur zwingt sie, das Ganze zu unterschreiben. Ihre Haare, so will es der Vertrag, dürfen mit sofortiger Wirkung niemals kürzer als auf Kinnlänge geschnitten werden. Auch wenn sie ihn einmal auf Knien darum anflehen sollte – der Friseur wird ihr den Wunsch nach kürzeren Haaren für den Rest ihres Lebens abschlagen.

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