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Liebe Mama

Text: Frau_Erdmaennchen
Liebe Mama,

ich hab mich wirklich gefreut, Dich und Papa letztes Wochenende bei mir zu Besuch zu haben. Ich habe immer gerne mit Dir Mutter-Tochter Zeit verbracht, so wie am Freitag als Papa sich mit Freunden getroffen hat. Aber etwas hat sich verändert, so dass mich die Mutter-Tochter Zeit nun eher traurig macht und ich mich frage, was aus Dir geworden ist.

Während wir da in einer Shoppingpause so draußen vor dem York's Pub saßen und unseren Kaffee tranken, während wir also diese Stille aushielten, die endgültig eingetreten war nachdem ich Deine mehrfachen Gesprächsansätze jeweils mit "Ja, das hast Du letztens geschrieben" unterbrochen hatte, schoss mir einiges durch den Kopf. Wieso haben wir so gut wie keine Gesprächsthemen? Wieso höre ich, wenn es um ein aktuelles Thema geht, nicht viel mehr als die Platitüden aus der Tagesschau von dir? Warum kann ich mich nicht mehr daran erinnern, welche Art Bücher du magst? Und wieso höre ich schon zum dritten Mal dieselbe Anekdote von Opas Geburtstag letzter Woche bis ins letzte Detail, und wie mich ja alle 'ganz lieb grüßen', und wie toll vorletztes Wochenende das 'Feuerwerk der Turnkunst' war?

Als ich kleiner war, konnten wir uns nicht ausstehen, und ich habe dich oft gehasst und du konntest mich kaum ertragen. Aber bewundert habe ich dich auch immer. Du warst die unglaublich geschäftige Berufstätige, die uns Kinder und den Job und alles immer unter einen Hut brachte. Diese ganzen Rabenmutterkomplexe fand ich eh immer schwachsinnig, schließlich wart ihr immer da für uns. Du hast mit Mitte 30 noch eine handwerkliche Berufsausbildung oben drauf gesetzt um in der Firma mehr Einblick zu bekommen, und Du hast den ganzen Männerhaufen ganz schön beeindruckt. Du warst eine Löwenmutter, wir waren Dir immer das Wichtigste. Du bist mit Papa viel rumgereist, auch wenn man Dir dafür manchmal einen kleinen Schubs geben musste. Du warst nicht das Klischee der 'Powerfrau' (den Begriff fandest Du selber ja immer blöd) und man merkte oft, dass Du eingeschüchtert warst oder überfordert. Für die feministische rosa Brille eignet sich Dein Leben nicht, dafür war Papa vielleicht auch immer zu dominant. Aber Du hast das alles gemacht, und ich hab damals immer angenommen, dass wenn ich einmal erwachsen bin, ich mehr mit Dir zu bereden hätte (endlich sozusagen, da es in meiner Pubertät ja wirklich nichts gab).

Davon ist nicht viel übrig. Du hast Dich früher immer über die Frauen amüsiert, die nichts über den Tellerrand hinaus haben und keine Gesprächsthemen außerhalb ihres Hauses. Inzwischen bist Du selbst zu einer davon geworden. Du informierst Dich nicht, Du bildest Dir keine Meinungen, Du liest nichts, Du triffst Dich nicht mit Freundinnen. Dein Kreis ist kleiner geworden. Niemand hat dich schrittweise eingeengt, aber du hast dich eingeigelt und Deine Rezeptoren für das Leben mit Watte eingehüllt. Ich habe vor einigen Wochen die Mutter von einer Freundin kennen gelernt. Ich war fast getroffen, wie viele Gesprächsthemen ich mit dieser Frau hatte und wie interessant sie war. Da erst realisierte ich, dass es nicht mehr der "Kind-Erwachsener" Unterschied ist, dass wir uns nichts zu sagen haben. Es liegt an Dir. Du bist die Frau geworden, die Du nie sein wolltest. Die Frau, die sich nicht mit der Welt beschäftigt, die nicht mehr über den Tellerrand schaut, und mit der ich mehr unangenehme Schweigemomente habe als anregende Gespräche. Du hast Dich verändert. Ich habe meine Bewunderung für Dich verloren. Du bist kein Vorbild mehr für mich als Frau, sondern eher abschreckendes Beispiel. Wie konnte es so weit kommen?

Und während ich all dies schreibe, realisiere ich, dass meine Wut auf Dich, die mit dieser Erkenntnis einhergeht, weil mir eine meiner Identifikationsmöglichkeiten als emanzipierte und moderne Frau genommen wurde, vor allem auch darin begründet ist, dass ich Angst habe so zu werden wie du.

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