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LENIN IN DER DISSE

Text: VinzenzFedor

 Etwa 25.000 Menschen strömten am 24. November ins Moskauer Olympiastadion. Allein: Sie kamen nicht wegen Robby Williams oder Lady Gaga, sondern um die Stars der 80er zu sehen, deren Glanz schon längst erloschen ist. Bei der „Diskothek der 80er“ feierten die Russen aber nicht nur ihre Bühnenhelden des Glamrock und Disco sondern auch die sowjetische Vergangenheit.



In Russland, so meint man häufig, ist die Zeit stehen geblieben. Lenins steinerne Augen folgen den Fahrgästen in die Metro, Zuckerbäckertürme werfen ihre Schatten auf Plattenbauten. Ins Auge fallen riesige Polizeihüte und Straßenschilder, die die Namen sozialistischer Führer tragen. Ins Ohr fällt immer wieder: Modern Talking und ihre Frisurschwager. Es scheint kaum ein Radio zu geben, und das ist schließlich in Moskau das Medium Nummer eins, weil man gefühlt immer im Stau steckt, das nicht die 80er in Endlosschleife abspielt.



 



Aber Hyperbeln sind ja steigerbar: Seit elf Jahren richtet der Sender „Avtoradio“ das internationale Musikfestival „Diskothek der 80er“ aus. Dafür dürfen die Alten nochmal auf die Bühne. Diesmal mit dabei eine Litanei von Stars und Sternchen, deren Abglanz in Europa mit Beginn des neuen Jahrtausends erlosch: Chris Norman, C.C. Catch, Bad Boys Blue…. Geil! Also nichts wie hin!



 



PIONIERE IN DEN WECHSELJAHREN



 



17:15 Uhr. Seit einer Dreiviertelstunde strömen die Besucher des Olympiastadions im Moskauer Norden über Treppen und Gänge in die Halle. Viele von ihnen kommen in größeren Gruppen von sechs bis zehn Mann, einige Pärchen sind aber auch dabei. Altersdurchschnitt: zwischen 40 und 45. Emsig greifen sie die kleinen Fähnchen von Avtoradio, die überall von hübschen Mädels verteilt werden, die für die Musik definitiv zu jung sind. Hinter einer vorgehaltenen Hand – die andere hält den Festivalbesuchern einen Strauß der Fähnchen entgegen – verraten mir zwei von ihnen, dass sie diese Musik sicher nicht hören. Eine kennt hier sogar die guten Rock- und Metalclubs. „Wir dürfen gehen, wenn wir alle losgeworden sind.“ Colgate-Grinsen.



 



Das haben auch die Püppchen drauf, die in Stöckelschuhen, Neonleggings und Lederkluft die Besucher anlächeln, bereitwillig mit ihnen auf Fotos posieren. Die dunkel geschminkten Augen, Lederkluft und die auftoupierte Haarpracht sollen wohl einen Hauch von in Ansätzen unanständigem Glamrock versprühen – doch weder Glamour, noch Rock kommt dabei rüber. Da hilft auch nicht, dass die Mädchen immer wieder leicht in die Knie gehen, zu einem nichtdefinierbaren Takt wippen. Auch die bunte Pappgitarre kann nicht verhindern, dass der Putz der Rockfassade bröckelt.



 



Wenn Olesja die Massen anlächelt, die sich an ihr vorbeidrängen, entblößt sie eine Zahnspange. Auf einer normalen Gitarre kann die 20-jährige nicht spielen. „Nur auf der hier“, sagt sie kokett und hält das Pappimitat am Hals nach oben. Immer wieder hetzt ein Mann mit Walkie-Talkie vorbei, raunzt die Modelle an, mehr Stimmung zu machen, die Leute anzuheizen. Sie wippen schneller, drehen kleine Pirouetten, lassen sich ablichten. Olesja steht schon seit 16 Uhr hier, um 21 Uhr darf sie nachhause – mit 2.500 Rubel mehr in der Tasche, also etwa 62 Euro. „Gutes Geld für die Zeit!“, meint sie.



 



MIT VOKUHILA UND GOLDOHRRING



 



Aber wer sind eigentlich sind die Leute, die auf so ein „Festival“ gehen, das so gar nichts mit Bierdosen, Gummistiefeln und Zelten zu tun hat? An der Treppe steht ein Endvierziger, dessen Seele wirklich noch in den 80ern baumelt. Er trägt seine Haare vorne Business, hinten Party. Am linken Ohr blinkt ein goldener Ohrring. Ich frag ihn nicht, wo der Wasserstoff hin ist, sondern woher er kommt. „Aus Baschkortostan“, sagt er strahlend. Das ist einfach mal über eine Tagesreise mit dem Zug aus der russischen Teilrepublik bis nach Moskau – wegen nur eines Konzerts. Ob das nicht viel Aufwand und Geld für so ein Line-Up wäre. „Ich hätte auch 20.000 Rubel gezahlt!“, posaunt er und dreht sich Richtung Eingang – das „la“ seines Vokuhila fliegt hinterher.



 



Auffällig sind einige Leute mit roten Tüchern, die sie um die Schultern gelegt haben. Auf dem Kopf sitzt eine Kappe in derselben Farbe, ein altes Dickerchen trägt in der Hand eine Fahne mit Lenins Konterfei. Ich spreche eine Gruppe weiblicher Sowjetnostalgiker an: Pioniere in den Wechseljahren. An ihren Hälsen baumeln die großen, blauen 3D-Brillen, mit denen man später sehr durchschnittliche Animationen auf der Leinwand hinter den Künstlern bestaunen wird können – Avtoradio hat 30.000 Brillen vor dem Festival bestellt. Die Frauen kämen wegen der Kindheitsemotionen, meint eine Blondine und strahlt dabei auch genauso wie ein Vorjugendlicher. In der Zeit, als Modern Talking ihren seichten Europop mit hochgeregelter Kopfstimme zu trällern begannen und Leonid Breschnew gerade erst den Löffel abgegeben hatte, war sie vielleicht zwischen acht und zwölf Jahren alt. Simpel gestrickte Lieder, mit hohen Männerstimmen, mit wenig Drive dafür aber mit viel „tonight, tonight“ waren neben kommunistischer Marschmusik für ihre musikalische Früherziehung zuständig. Eine solche Prägung wird man nicht so schnell los.



 



GEBOREN IN EINE KASTE, FERN VON IRONIE



 



Und man gibt sie weiter: Eine Mutter, hat ihre Tochter im Grundschulalter ins Olympiastadion mitgeschleppt. Wegen Sabrina und Ricchi e Poveri seien sie gekommen. „In Russland ist diese Musik einfach eine Tradition“, erklärt sie. Ich frage die Kleine, ob sie diese Musik auch hört. „Klar! Sie singt und tanzt sogar dazu“, berichtet die Mutter stolz und das Töchterchen dreht sich verschämt in Mamas Mantel. Mir fällt mein ehemaliger Kommilitone Andrej ein, der sagte, er sei eben genau mit so einer Mucke aufgewachsen. Als russisches Kind hat man keine Chance: Man wird in eine Kaste geboren, fern von Ironie, die man – nach heutigen Maßstäben – auf jeden Fall benötigt, um diesen billigen Synthie Pop ertragen zu können. Die Eltern zwingen ihre eigene frühkindliche Europop-Prägung ihren Nachkömmlingen auf. Die machen dasselbe. Die arme Kleine – sie hat wirklich nicht den Hauch einer Chance.



 



Genauso wenig wohl, wie die 28-Jährige, die schon immer mal zu diesem Festival von Avtoradio wollte. Mir stockt das Blut: „Bist du nicht zu jung für so etwas?“ „Nein!“, winkt sie ab, „Ich komme aus Nostalgie. Diese Musik bedeutet für mich Kindheit!“ Okay, das geht doch nicht an. Irgendwo muss es doch noch – außer diesen beiden Fähnchen-Mädchen – jemanden geben, der, wie ich, lachen muss, wenn er Anders und Bohlen im Radio hört. Vielleicht Olesja. Sie bestätigt mir meine Kasten-Theorie: „Als wir klein waren, mussten wir das einfach hören. Aber“, und jetzt öffnet sich mein Herz, „eigentlich hört meine Generation eher die 90er.“ Mein Herz zerbricht. Eurodance, Aqua, Barby Girl… Ich muss weg. Ich fliehe auf die Tanzfläche, denn gleich geht es los…



 



PLAYBACK SCHLECHTER ALS IM MUSIKANTENSTADL



 



Üppig gibt das Intro von den Russen „Zodiak“, der auf der Liste im Backstagebereich als „Megamix“ vermerkt ist. In der Tabelle sind sechs russische „Bands“ und Bands gelistet und einige europäische und amerikanische Interpreten. Nach Gorky Park wird es langsam warm im Publikum. Der erste Schal wird in die Plastiktüte zwischen den Beinen gestopft. Die weiblichen Blaubrillenträger tanzen sich schon ein – sogar zu den Jingles und Überbrückungsmusiken. Sie tanzen, wie nur Mütter tanzen können: Ohne Scham in Bewegungen, die veraltet, aber auch irgendwie Vintage sind. Und dann kommen „Silent Circle“.



 



Die Deutschen sind alt geworden. Der Keyboarder sieht aus wie The Rock – in zwanzig Jahren und nach einem Hungerstreik. Der Trommel hat graue Schläfen und Martin Tychsens Stimmchen bringt nur ein ganz dünnes „Moscow! Wu-hu!“ hervor. Die drei liefern Synthie Sound, der wirklich so nicht mal mehr in Kasachstan produziert wird. Das Playback hört ein Tauber mit Ohrschutz – noch eine Stufe unter dem Musikantenstadl. Die Menge feiert trotzdem, wedelt mit den Fähnchen und jauchzt. Aber das haben die Russen in ihrer Geschichte ja gelernt: Einem großen Fake zuzujubeln und fleißig dabei die Fahnen zu schwenken.



 



Die Set List von Silent Circle heizt den Russen ein. Mit „Touch in the night“, ihrem ersten, richtig großen Hit, steigen sie hoch ein. Vor mir wuchtet eine Frau ihre 20 Kilo Hüftspeck hin und her. Daneben dänst ein junger Typ irgendetwas zwischen Jumpstyle und Finger in der Steckdose. Beim zweiten Song, „Anywhere Tonight“, versucht der schon ziemlich abgerackerte Martin Tychsen, sein Bein rockig auf den Monitorboxen auf der Bühne abzustellen. Mit ein wenig Zielen klappt das auch. Mit „Stop the rain in the night“ – ehrlich das Sujet ist jetzt mal ausgelutscht – verabschieden sich die ermüdeten Altpopper und machen den Weg frei für ihre Landsleute von „Arabesque“.



 



 "IHR TREFFT JETZT AUF DISCO"



 



„Ihr trefft jetzt auf Disco“, wird eingeblendet – nur damit es im Zweifel zu keinen Verwechslungen mit den „Rockbands“ kommt. Die drei ehemals jungen Frauen von „Arabesque“ verstecken ihre Körper in goldenen Pailetten-Kleidern, ihre Gesichter hinter einer Make-up Patina. Das Gesicht von Silke Brauner sieht unnatürlich straff, die Lippen übervoll aus. Sabine Kämper scheint etwaige überflüssige Haut im Nacken zusammengefaltet und dort mit dem breiten silbernen Halsband befestigt zu haben.



 



Aber zurück zur Performance. Sie geben alles, was das Alter noch hergibt: Im Disco-Stil zeigen sie rechts auf die Bühne, nach links oben an die Decke. Dann fahren sie mit ihren gespreizten Zeige- und Mittelfingern vor ihrem Gesicht vorbei. Im Publikum ist die „Heat of the disconight“ durchaus zu spüren. Und dann verabschieden sie sich auch schon wieder mit einem „Spasibo“ in den Pressebereich. Schnell hinterher.



 



Im Blitzlichtgewitter schwärmen sie vom Moskauer Publikum, das wirklich wisse, wie man Party mache. Ach ja und wie sie die Stadt lieben, und wie toll alles organisiert sei. Interessant wird es aber doch noch. Sie haben auch eine Privatvorstellung bei einem Oligarchen in ihren jetzigen „Tourplan“ integriert. „Tell us the secret of your beauty!“, platzt eine Journalistin heraus und die anderen nicken. „Botox, Lifting“, will ich schreien. Die Wörter „Make-up“ und „Silikonlippen“, wollen aus mir heraus. Ich begnüge mich aber damit, Sabine im Vorbeigehen zu fragen, ob es Probleme mit dem Playback gab. „Nein, haben Sie was gehört?“ „Ich dachte schon!“ „Hm… Kann sein. Wissen Sie, wir hören eh was ganz Anderes als das Publikum da unten!“



 



SOWJETUNION FÜR KNAPP 15 MINUTEN



 



Echte und ehrliche Musik gibt es dann aber doch noch – von den Russen selbst. „Wjatscheslaw Butusow“ tritt mit seiner Gruppe „Ju-Piter“ auf, schaut kaum nach unten, ist auf eine bluesige Art augenscheinlich angenervt. Er schneidet die Töne ebenso angepisst an, überrascht aber doch mit einem schiefen Lächeln und einem „Spasibo“, das den Weg aus einem Mundwinkel findet. Das gute Gefühl wird aber gleich wieder von „Ricchi e Poveri“ und ihrem „Ma-, Ma-, Ma-, Ma-, Mama Maria“ zerstört. Ob Franco Gatti und Angelo Sotgiu was eingeworfen haben, kann ich nicht sagen. Angela Brambati, die da in der Mitte der Bühne mit weit aufgerissenen Augen abspackt, als würde sie keine Luft mehr bekommen, scheint mindestens auf Tollkirsche zu sein. Ihr ist es auch egal, dass sie wild mit dem Mikro vor ihrem Gesicht herumfuchtelt und sich ihre Lippen nicht immer dem Text entsprechend formen.



 



Konstantin Nikol’skij, ein sympathischer Liedermacher rettet dann für mich den Abend aus musikalischer Sicht. Bei seinen melancholischen Liedern liegen sich Tausende in den Armen und singen mit. „Schön, dass ihr euch erinnert!“, sagt Nikol’skij sichtlich gerührt ins Mikrophon. Mit nur drei Liedern schafft er eine einfältig schöne, nostalgische Romantik. Sowjetunion  für knapp 15 Minuten. Und dann muss wieder so ein Heini auf die Bühne und alles kaputt machen: Chris Norman. Wer war das nochmal? Der Betrunkene neben mir meint auf jeden Fall die Textzeilen zu kennen: „Who is Fuck is Allice?!“, grölt er der Bühne entgegen, auf die Chris Norman nach drei Liedern seine „gute Freundin“ C.C. Catch bittet. Gut befreundet, weil sie beide in derselben Lage sind: Sie waren mal Stars, haben den Absprung verpasst und sich in ihrer jämmerlichen Rolle als tote Sterne zurechtgefunden, die ab und an in Osteuropa wiederbelebt werden.



 



Sie darf dann alleine weitermachen und das auch gleich mit ihrem bekannten Lied „Heaven and Hell“. Der Refrain hat sich mir vor genau zwei Jahren in mein Gehirn eingebrannt, als ich mit Andrej in einem kirgisischen Reisebus fuhr und ein Konzert besagter Dame in Endlosschleife auf dem alten Fernseher flimmerte. Und genau hier reicht es mir. Bei aller Ironie, die ich für die Künstler und all dem Respekt, den ich für die Russen aufbringe, die hier die 80er musikalisch und weltpolitisch noch einmal abfeiern – ich kann wirklich nicht mehr zuhören.

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