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Der Umzug nach Berlin

Es war der 13. Oktober 2011. Der ICE, in dem ich mich befand, stand kurz vor Berlin und konnte nicht weiterfahren. Am Vorabend hatten linksradikale Aktivisten die Signalanlagen der Bahn beschädigt (sie ließen an mehreren wichtigen Knotenpunkten Brandsätze hochgehen). Offensichtlich wurden soeben neue Brandsätze gefunden. Die Polizei hatte die Strecke gesperrt. Die Weiterfahrt verzögerte sich auf unbestimmte Zeit.
Ich hockte im Gang auf dem Boden. Neben mir befand sich eine Sporttasche, ein Koffer und ein Synthesizer. Das war alles, was ich hatte. (Alles andere lag auf dem Müll oder beim Freund eingebunkert.) Eine ungewisse Zukunft lag vor mir. Hinter mir lagen 22 Jahre München. Es war eine bewegte Zeit mit Höhen und Tiefen, Freude und Trauer, Irrungen und Wirrungen. Ich hatte dort viel erreicht, beruflich, privat, und künstlerisch. Irgendwann kam ich dann an einem Punkt, wo es nicht mehr weiter ging. Ich war Anfang 30. Wenn ich es jetzt nicht schaffen würde, mich von München los zu lösen, dann würde ich es überhaupt nicht mehr schaffen. Ich würde mit 60 immer noch in der selben Wohnung leben, den selben Beruf nachgehen, mit den selben Leuten rumhängen, die selben Hobbys pflegen, die selben Orte aufsuchen und dort die selben Hackfressen sehen. Ich würde genau der Selbe bleiben, und nichts würde sich ändern. (Ok, vielleicht einbisschen.) Mit 60 würde ich dann auf mein Leben in München zurück blicken und mir sagen. „Hast du toll gemacht. Wo sind all die Jahre hin? Was hast du in der Zeit bitteschön getan? Dieses angepasste Leben da unten, passt es denn überhaupt zu dir? Jetzt mal ganz, ganz ehrlich!“
Ganz, ganz ehrlich kann die Antwort nur „Nein“ heißen. Ich passe einfach nicht in diese Stadt. Meine Mentalität, meine Denkweise, meine Haltungen, meine Interessen – so ziemlich alles unterscheidet mich von den anderen. Es ist hier kein Platz für mich. Du musst gehen. (So dachte ich zumindest.)
Eines Tages zog ich dann die Konsequenzen. Ich kündigte den Job, löste die Wohnung auf, und mistete meinen Freundeskreis aus. Kein Ballast sollte hier zurück bleiben. Es war ein Akt der Befreiung. Ich fühlte mich wie neu geboren.
Nun hockte ich im ICE auf dem Boden und fühle mich wie eine Pflanze, die aus ihrer Umgebung rausgerissen und auf eine Reise geschickt wurde. Irgendwie ist Heimat ja doch Heimat. Aber nun war es zu spät. Es gab kein Zurück mehr. Du hast es so gewollt, und nun trägst du auch die Konsequenzen.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, gewann allmählich an Fahrt, und bald erreichten wir die Vororte von Berlin. Ich blickte auf die vorbeifliegende Gebäude, Fabriken, Brücken und Bahnanlagen. Immer tiefer drang der Zug in Richtung Mitte vor. Wir passierten den Westkreuz, überflogen den Bezirk Charlottenburg und durchfuhren den Bahnhof Zoo. Ich guckte durch das Fenster und saugte begierig all die Eindrücke auf, die diese Stadt mir nach längerer Abwesenheit bot. Ja, irgendwie hat sich hier was verändert. Irgendwie ist die Stadt sauberer geworden. Ordentlicher. Moderner.
Und dann war ich da. Vor dem neuen Hauptbahnhof. Ich stand dort mit meinem Koffer, meiner Sporttasche und meinem Synthesizer, lauschte mit allen Sinnen dem Lärm der großen Stadt und suchte nach meinem Tabakbeutel. Kaum hatte ich das Ding in der Hand, kam ein Typ zu mir um bat mich um eine „Drehung“. Ich gab ihm den Beutel. Er drehte sich eine Kippe, bedankte sich und ging wieder fort. Ich war mit meinen Gedanken wieder alleine. Es war auch gut so. Ich musste jetzt allein sein. Niemand könnte mir jetzt in dieser Stunde beistehen. Nur ich selbst konnte es tun.
Ich erinnerte mich, vor 6 Jahren stand ich schon einmal hier oben und dachte: Und nun? Was willst du jetzt hier eigentlich überhaupt? Wozu bist du überhaupt hergekommen?
Solche Gedanken kann man in der Situation gar nicht gebrauchen. Da kann man ja gleich wieder nach Hause fahren. Also weg damit! Freu dich jetzt mal einbisschen, verdammte Scheisse! Du bist jetzt in Berlin! War es nicht dein letzter großer Traum, hier zu leben? Jetzt hast du es endlich mal geschafft. Genieße es!
Irgendwann wurde es Zeit. Ich musste weiter. Auf meinem Zettel stand die Anschrift von einem Wohnheim in Buckow, Bezirk Neukölln (neben Gropiusstadt). Gropiusstadt, das wusste ich seit Christiane F. / „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, ist ein richtig übles Plattenbau-Ghetto. Ich würde Berlin so richtig von unten kennen lernen. Ohne Schutz, ohne Zugezogenen-Community. Mal wieder der Sprung ins kalte Wasser. Wie so oft in meinem Leben. Und jedes mal war ich verdammt froh und dankbar dafür.
Ich quetschte mich in die U-Bahn. Die Fahrt bis „Johannisthaler Chaussee“ kam mir wie eine Ewigkeit vor. Ich stieg aus dem Zug, verließ den Bahnhof und befand mich plötzlich mitten unter einer wütenden Meute junger Männer. Mit Silberketten, schwarzen Kapuzen-Pullis und Trainingshosen. Einer von denen hatte einen hässlichen muskulösen Kampfköter dabei, den er kaum in Zaum halten konnte. Erst dachte ich, sie wären an meinem Synthesizer interessiert, den ich die ganze Zeit mit mir rumschleppte. Doch deren Interesse galt der gegenüber liegenden Straßenseite. Dort stand ebenfalls eine wütende Meute und brüllte irgendwas rüber, was sich anhörte wie „Komm halt her, du Spast!!!“. Ich ging behutsam an den Leuten vorbei und stellte mich an die Bushaltestelle. Am abendlichen Himmel glimmerten die Umrisse riesiger Plattenbauten. Irgendwo hier würde ich die nächsten Monate also leben. Und den Berliner Herbst mitmachen. Wie alle anderen auch, die hier leben. Warum sollte ich eine Sonderbehandlung bekommen. Nur weil ich aus München komme? Irgendwo, im Tiefen deiner Seele, bist du doch ein Moskauer. Oder etwa nicht? Dann benimm dich gefälligst auch wie einer. Sanatorium ist vorbei.