Von einer, die auszog, um Kindern auf die Welt zu helfen
Immer mehr Frauen wünschen sich eine Geburt in einem gemütlichen, warmen und harmonischen Umfeld, fern vom grellen Krankenhauslicht. Sie bevorzugen es, ihre Kinder zu Hause oder in einem Geburtshaus auf die Welt zu bringen. Ein solches Geburtshaus gibt es im Saarland nur ein einziges Mal. In St. Arnual, einem kleinen Stadtteil von Saarbrücken, nahe der französischen Grenze. Leiterin ist Judith Gehr, 35 Jahre alt und Hebamme aus Leidenschaft.
Die Sonne strahlt. Ein wunderschöner Sommernachmittag Anfang Juli. Im Geburtshaus Saar macht sich gerade ein Junge auf den Weg, das Licht der Welt zu erblicken. Um 6 Uhr in der Früh ging es los – Wehen wurden stärker und folgten in immer kürzeren Abständen. Das Zeichen dafür, dass sich das Wunder der Geburt ankündigt. Die Eltern sind aufgeregt. Es ist ihr zweites Kind. Das erste Kind - auch ein Junge - kam im Krankenhaus zur Welt. Zu unpersönlich, zu hektisch, einfach nicht nett fanden die Eltern. Diesmal soll es das Geburtshaus sein. Gemütlich, harmonisch, freundlich. Der Geburtsraum strahlt Ruhe und Geborgenheit aus. Wände mit zarten Fliedertönen unterstützen diese wohlige Atmosphäre. Ein Bett mit großen bunten Kissen, eine weiche Bodenmatte, ein Gebärhocker und ein gemütlicher Korbsessel. Mehr braucht es in diesem Zimmer nicht. Judith Gehr lässt die Rollläden ein Stück weit herunter. So schön die Sonnenstrahlen auch das Zimmer erhellen, für den Säugling ist der etwas abgedunkelte Raum angenehmer. Sie zündet Kerzen an und verschafft so eine romantische und ruhige Stimmung. Nun kann das Kind kommen. Alle sind bereit. Die werdende Mutter stützt sich an der Wand ab, veratmet tapfer jede Wehe. Doch entgegen allem Bekannten aus Film und Fernsehen wird nicht geschrien, es fliegen keine Schimpfwörter durch die Luft und der Vater ist auch noch nicht umgekippt. Er steht neben seiner Frau, hält einen kühl-nassen Waschlappen in der Hand, mit dem er seiner Frau sanft den Schweiß von der Stirn tupft. Alle paar Minuten hört Judith Gehr die Herztöne des Babys im Bauch ab. Alle im Raum sind gespannt, aber ruhig. Es liegt eine absolute Stille über dem Geburtshaus. Geredet wird gar nicht oder nur im Flüsterton. Es geht in die Endphase. Die werdende Mutter sitzt auf dem Gebärhocker, ihr Mann hinter ihr im Sessel. Er umarmt sie und hält fest ihre Hände. Judith Gehr kniet vor dem Gebärhocker, bereit, das Kind in Empfang zu nehmen. Auch hier wird weder lautstark angefeuert, noch verzweifelt geschrien. Bloß einige wenige Ermutigungen in Flüsterlautstärke entspringen dem Mund der Hebamme. Judith Gehr ist da, an der Seite der werdenden Eltern. Doch auf behutsame, leise Art und Weise. Alles läuft vollkommen ohne Komplikationen. Es dauert nicht lange und Judith Gehr kann den kleinen Jungen auf den Bauch seiner Mutter legen, die ihn erschöpft aber überglücklich in ihren Armen hält. Nach einer Weile legt sich die Familie ins Bett, wo sie sich ungestört kennenlernen können. Judith Gehr verlässt den Raum und gönnt den Dreien Zeit für sich.
Im Durchschnitt kommen im Geburtshaus jeden Monat zwei bis drei Kinder zur Welt. Jede Geburt entfacht in Judith Gehr eine Leidenschaft. Auf die Frage hin, warum es immer noch so besonders und aufregend ist, antwortet sie mit einem Lächeln: „Hinter jeder Frau, hinter jeder Schwangerschaft steckt eine Geschichte. Und Teil einer jeder dieser Geschichten zu sein, ist ein Geschenk.“ Seit 10 Jahren arbeitet sie nun schon als freiberufliche Hebamme. Nach 3-jähriger Ausbildung am Schulzentrum St. Hildegard an der Caritasklinik Saarbrücken und 2-jähriger Tätigkeit im Krankenhaus Dudweiler folgte der Schritt in die Selbständigkeit. Dass sie Hebamme werden will, wusste sie schon mit 5 Jahren. Sie will etwas mit Babys machen, hat sie damals ihrer Mutter gesagt. „Ich hab‘ mir bei meinen Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz auch kaum große Mühe gegeben. Ich wusste ja schon mein ganzes Leben, dass ich Hebamme werd‘! Es war einfach klar.“ erzählt Judith Gehr.
Das Geburtshaus ist ihr Leben, ein Ort der Harmonie. Hier kann Judith Gehr genug Kräfte sammeln, um ihre Energie an die Frauen weiterzugeben. Mit viel Liebe hat sie das Haus eingerichtet. Gleich hinter der Eingangstür befindet sich ein großer Raum mit der Küche, einem Esstisch mit bunter Tischdecke und viel Platz für pinkfarbene Gymnastikmatten auf dem Boden. „Hier finden oft die Rückbildungskurse statt“ erzählt Judith Gehr. Der Raum erstrahlt in einem leuchtenden Sonnengelb, die Wände verziert mit Fotos, auf denen die frischgeborenen Erdenbürger ihre ersten Grüße und Danksagungen hinterlassen. Auf den Fensterbänken der schmalen Fenster hoch oben unterhalb der Decke sind haufenweise Bücher rund um das Thema Geburt und Schwangerschaft aufgereiht. Bunte Stuhlkissen, Körbe mit Kinderspielzeug und eine große grüne Pflanze, deren runde Blätter sich an den Wänden entlangräkeln, verleihen dem Raum eine warme und wohlige Atmosphäre. Auch die anderen vier Zimmer vermitteln den Eindruck von Wohlbefinden und Vertrauen. Die meiste Zeit verbringt Judith Gehr im Besprechungszimmer. Hier finden die Vorsorgegespräche mit den Schwangeren statt. Gemütlich wie bei einem Kaffeeklatsch geht es dabei zu. Die braune, sehr bequeme Ledercouch mit Schaffellüberwurf lädt zu einem netten Plausch mit der Hebamme ein. Alle Fragen, die einem als zukünftige Mutter auf der Seele brennen, werden hier besprochen. Ob ein Kind vegan ernährt werden kann? Ja, sagt Judith Gehr. Die Sorge, nicht rechtzeitig im Geburtshaus anzukommen. „Na, das Kind fällt nicht einfach aus dir heraus“ ist hier die beruhigende und verständliche Antwort. Die Frauen fühlen sich gut mit dem Gedanken, sich in den Händen von Judith Gehr zu wissen. Ihre herzliche aber auch sehr klare und bestimmende Art, die Dinge zu erklären, gibt den Frauen ein Gefühl von Sicherheit.
Auch außerhalb des Geburtshauses betreut Judith Gehr Schwangere und Mütter. Durch die grenznahe Lage ergeben sich viele Außentermine in Frankreich, oder Termine bei Französinnen, die in Saarbrücken leben. Eine interkulturelle Hebammentätigkeit könnte man sagen. Ob es Unterschiede zwischen Französinnen und deutschen Frauen gibt? Ja, wobei diese Unterschiede vor allem dadurch beeinflusst werden, wie der Beruf der Hebamme in beiden Ländern gehandhabt wird. In Frankreich ist die Ausbildung zur Hebamme erst nach einigen Semestern Medizin möglich. Es wird weniger Wert auf alternative Methoden gelegt. Geburtshäuser sind in Frankreich sogar illegal, das Gebären zu Hause eine Rarität. Nur 60 freiberufliche Hebammen in Frankreich bieten überhaupt hausgeburtliche Hilfe an. Hier herrscht eine klare Linie. Das Kinderkriegen ist weniger natürlich, vielmehr unterstützt durch die medizinische Wissenschaft. 75 Prozent der Frauen in Frankreich bekommen eine PDA, eine schmerzstillende Injektion am Rückenmark. In Deutschland sind es bloß etwa 20 Prozent. 30 Prozent der Geburten in Frankreich sind Kaiserschnitte, in Deutschland wiederum nur 20 %. Etwa jede fünfte Geburt wird eingeleitet, und etwa 12 Prozent werden vaginaloperativ, also mit einer Geburtszange beendigt. Wassergeburten kennt man bloß vereinzelt – in Großstädten wie Paris und Lyon. Die übliche Gebärhaltung ist klassisch gynäkologisch mit Beinhaltern. Viel Natürlichkeit gibt es dabei nicht mehr. Eher steht eine Geburt in Frankreich unter strengen medizinischen Kontrollen und Regeln. Abweichungen gibt es nur sehr wenige. Und auch die Hebammen, die Hausgeburten anbieten, müssen aufpassen, denn sie machen sich strafbar. Einige wenige französische Frauen wählen daher den Weg über die Grenze zu Judith Gehr. Sie sehnen sich nach einer natürlichen und weniger medizinisch strukturierten Geburt. „Anfragen aus Frankreich kommen viele!“ sagt Judith Gehr. Doch bisher war es nur eine einzige Französin, die tatsächlich mit Judith Gehr an ihrer Seite zu Hause in Frankreich entbunden hat. „Abschreckend ist für viele die hohe Summe, die sie mir zahlen müssen, damit ich sie im gesamten Schwangerschaftsprozess begleite. Da ich nicht über ihre französische Krankenkasse abrechnen kann, müssen sie mir etwa 1000-1500 Euro zahlen. Viele wählen dann doch den normalen Weg und sparen sich lieber das Geld. Aber da muss eben jeder wissen, wie viel ihm eine Hausgeburt wert ist.“ Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen Frauen ihre Hebamme und den Geburtsort, also auch zum Beispiel das eigene Heim, selbst bestimmen können.
Doch diese Annehmlichkeit steht auf wackligen Füßen. Denn derzeit befindet sich die Geburtshilfe in Deutschland in einer Krise. Durch die immer weiter ansteigenden Haftpflichtprämien, die die freiberuflichen Hebammen jährlich für ihre Geburtshilfe zahlen müssen, arbeiten viele freiberufliche Hebammen nur noch in der Vor- und Nachsorge, nicht mehr in der eigentlichen Geburtshilfe. Das führt dazu, dass die Schwangeren zwar von ihrer Hebamme vor und nach der Geburt begleitet werden, zur Geburt selber aber ein Krankenhaus aufsuchen müssen, wo sie dann durch andere Hebammen betreut werden. Auch Judith Gehr wird im Oktober diesen Jahres ihre Geburtshilfe einstellen. Das liege aber nicht nur an den finanziellen Umständen, sondern vor allem daran, dass sie sich mehr Freizeit wünscht. „Es ist nun an der Zeit, dass ich für mich selbst sorge.“ In den letzten zehn Jahren befand sich Judith Gehr in Dauerbereitschaft. Diese Bereitschaft für eine Schwangere erstreckt sich über insgesamt 5 Wochen, den Zeitraum von 3 Wochen vor dem errechneten Geburtstermin bis 2 Wochen danach. „Und wenn du jeden Monat ca. 3 Geburtstermine hast, bist du immer in Bereitschaft, das geht ja gar nicht anders.“ Ins Kino geht sie schon ab und an mal, aber nur, wenn ihr Bauchgefühl das wirklich zulässt. Und während sich andere an einem lauen Sommerabend zum Ausklang ihres Arbeitstages ein Glas Wein auf der Terrasse genehmigen, so verzichtet die Hebamme des Öfteren darauf, um am nächsten Tag voll einsatzfähig zu sein. Insgesamt beschreibt Judith Gehr ihren Beruf als eine Arbeit mit zwei sehr starken Polen. Da ist zum einen die Flexibilität, die als Freiberuflerin stark positiv auffällt, andererseits trägt man eine immense Verantwortung, die einen manchmal erdrückt. Und nicht nur das. Man darf als Selbstständige nicht krank werden, denn das bedeutet immer Geldverlust. Urlaub - eine Seltenheit in diesem Beruf. Doch all die Hingabe, all die Liebe, die sie in ihre Arbeit steckt, wird belohnt, jedes Mal auf ein Neues, wenn ein Kind gesund geboren wird und sie es der erschöpften aber glücklichen Mutter in die Arme legen darf.
Denkt sie an die eigene Geburt ihrer kleinen Tochter vor 4 Jahren, so wird Judith Gehr doch etwas nachdenklich und wehmütig. Ihre Tochter Rosa kam per Kaiserschnitt zur Welt - alles andere wollte nicht gelingen, so sehr sie sich dies auch gewünscht hätte. Nach der Geburt verfiel Judith Gehr in eine tiefe Depression. Das Gefühl, versagt zu haben, legte sie lahm. Ein ganzes Jahr verging bis sie allmählich wieder selbständig für sich sorgen konnte. „In diesem Jahr war ich auf sämtliche Hilfe angewiesen. Nichts hab ich mehr alleine hingekriegt.“ Der Blick in den Spiegel fiel ihr schwer. Die Narbe an ihrem Bauch – wie ein Stempel: „Durchgefallen“. Erst nach langer Zeit konnte sie verstehen, dass diese Narbe zu ihr und zu ihrem Leben gehörte. Dass dieser Kaiserschnitt etwas war, das sie nicht umgehen konnte. Selbst als Hebamme nicht. Es war sogar wichtig für sie und ihre Arbeit als Hebamme. Denn heute kann sie diese Erfahrung an ihre Frauen weitergeben. Kann ihnen erklären, dass niemand volle Kontrolle darüber haben kann, wie eine Geburt verläuft. Die Geburt ist nicht planbar. Man muss einfach Vertrauen haben und es passieren lassen. „ Denn wie, wo und wann es geschieht, das weiß nur der Himmel“ sagt Judith Gehr und schmunzelt.