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Das Mädchen, das seine Unschuld verlor

Text: lebefroh
Sie sitzt auf ihrer Schaukel, wie sie es immer tut. Die grünen Grashalme kitzeln die Sohlen ihrer nackten Füße.

Sie sitzt da, schaut zum Himmel hinauf, es sieht aus, als würde sie warten. Aber das tut sie nicht, sie weiß, daß er nicht kommen wird. "Komisch," denkt sie. "Wie die Dinge sich verändern können." Aber komisch findet sie es gar nicht.



Er tritt in den Garten, bleibt vor der Schaukel stehen, lächelt. Sie lächelt zurück.

"Wie geht°s?" fragt er, aber sie muß nicht antworten. Er weiß, daß sie glücklich ist.

Sie erhebt sich, steht nur einige Zentimeter von ihm entfernt. Sie berühren sich. Seine Hände sind warm, sie wünschte, ihr ganzer Körper würde in diese Hand passen und sie könnte für immer darin schlafen. Sie lauscht seiner Stimme, während er ihr erzählt, was er den Tag über gemacht hat. Dann redet sie über ihren Tag und er hört ihr zu.

Doch sie wissen, daß das was wirklich wichtig ist, ihre gemeinsame Zeit, ihre gemeinsamen Gedanken, ihre gemeinsamen Gefühle sind.

Dieser Garten mit seinem grünen Gras, den kleinen Bäumen und den gelbblühenden Büschen ist alles, was sie haben. Er ist alles, was sie brauchen.

Sie setzen sich hin. Sie denkt, sie lehnt sich gegen ihn, er hält sie fest. Er denkt, er lehnt sich gegen sie, sie hält ihn fest.

"Manchmal denke ich, daß ich nichts ohne dich bin," sagt sie.

Er lacht. "Quatsch. Du bist alles. Und das liegt nicht an mir." Er hat recht.

Sie reden - über was, das ist egal, aber selbst wenn sie nicht einer Meinung sind, hören sie das Glück in der Stimme des anderen. Manchmal schweigen sie. Manchmal küssen sie und berühren sich und streicheln und lecken. Ihre Körper sind ineinander verschlungen, zusammengeschmolzen als könnten sie nie wieder getrennt sein. Er paßt perfekt in sie, sie ertrinkt in seinen weit geöffneten Augen, und jeder Zentimeter ihres Körpers erzittert vor Freude, weil sie ihn berühren kann.

"Ich schlafe gerne mit dir und du schläfst gerne mit mir," sagt sie eines Tages, während sie ihr Gesicht gegen seine warme Haut preßt. Er grinst. Manchmal glaubt er, sie ist ein bißchen verrückt. Natürlich tun sie das. "Ist das nicht offensichtlich?" "Ich glaube, das Offensichtliche überrascht mich immer am meisten. Du überraschst mich."

Er sieht sie ein bißchen beunruhigt an. "Wirklich? Ich glaube, daß wir einfach zusammen gehören." Sie seufzt einen Seufzer des Glücks. "Für immer." "Für immer."

Danach liegen sie da, noch immer umarmt, außer Atem und müde. Ihre verschwitzten Hände in einander verkreuzt, die Nasen fast zusammenstoßend, fallen sie in traumlosen Schlaf.

Es ist spät nachts, als sie den Garten verlassen. Obwohl sie wissen, daß sie morgen wieder zusammen sein werden, zögern sie sich zu trennen. Worte können nicht ausdrücken, was sie fühlen, deshalb sagen sie gar nichts. Eine Sekunde lang befürchtet sie, er könnte es nicht in ihren Augen sehen, aber dann lächelt er, sie umarmen sich und gehen. "Für immer," hört einer immer noch den anderen.



Eines Tages ist alles vorüber. Von einen Tag auf den anderen - vorbei. Er kommt nicht mehr in den Garten, er kann nicht. Es ist weder seine noch ihre Schuld. Sie weiß das, aber sie hofft trotzdem. Sitzt auf ihrer Schaukel und hofft, seine Fußtritte zu hören, sein Lächeln zu sehen, seine Hände zu spüren. Einige Tage lang ist sie von Hoffnung erfüllt, sie bleibt Tag und Nacht in dem Garten, denkt an nichts anderes als an ihn.

Am dritten Tag wird ihr klar, daß er nicht kommen wird, nie, Hoffnung wird ihn nicht zurück bringen. Etwas in ihr zerbricht, wie ein Staudamm, der ihre Angst und den Schmerz irgendwo weit weg verschlossen hielt, jetzt kommt es alles in einer gigantischen Welle empor. Sie rutscht von der Schaukel, hockt in der Ecke bei der Mauer, vergräbt den Kopf in ihren zitternden Händen und weint, weint als könnte sie nie wieder aufhören. Ihr ganzer Körper schmerzt, sie kann kaum atmen und es tut so weh. Wie kann sie ohne ihn sein? Wie kann sie leben, wenn er nicht da ist?

Aber sie kann ohne ihn leben. Sie dachte es wäre so - aber sie braucht ihn nicht wie sie Wasser und Essen und Luft braucht. Eine Woche später sind ihre Augen ausgetrocknet. Ihre Augen und ihre Kehle schmerzen und auch ihr Herz, aber sie hat keine Kraft mehr zu weinen. Steif und kalt geht sie zurück zu der Schaukel, die nicht mehr ihre Schaukel ist. Sie versucht überhaupt nicht zu denken, Denken bedeutet Schmerz.

Aber selbst der dauert nicht ewig an. Sie verläßt den Garten, kommt nur von Zeit zu Zeit zurück, wenn sie sehr allein ist.

Zeit vergeht, und sie ist überrascht festzustellen, daß sie wieder an ihn denken kann.



Sie sitzt auf ihrer Schaukel und erinnert sich an die Vergangenheit. Was die Zukunft bringen wird, kann sie sich noch nicht vorstellen. Sie will auch nicht daran denken, denn wenn sie es tut, flackert da immer noch eine kleine beständige Flamme der Hoffnung - daß sie ihn noch einmal sehen, daß sie eines weitentfernten Tages in seinen Armen sterben wird. Aber sie weiß, daß sie weiter leben muß - und das wird sie.

Eine einzelne Träne rollt ihre Wange hinab. Sie hat etwas verloren, daß sie nie wiederbekommen wird. Ihre Ignoranz der Schmerzen des Lebens, ihr Glaube an endlose Liebe, ihre Kindheit. Es hat nicht zu tun mit ihrem Alter, mit ihrer Erfahrung oder mit dem kleinen Stück Fleisch, das nun zerrissen ist, irgendwo in ihrem Körper. Aber nie wieder wird sie die selben Träume von Vollkommenheit haben, die selben Hoffnungen auf ewiges Glück. Ihr kindlicher Idealismus, der sie mehr als achtzehn Jahre lang beschützte - verschwunden.

Sie weint ein bißchen mehr, denn sie weiß, sie hat ihre Unschuld verloren.

Song:

Muse - Uno

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