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Nicht (be)-greifbar –Schizophrenie von nahen Angehörigen

Text: Kirina

Nicht (be)-greifbar –Schizophrenie von nahen Angehörigen



 



Psychische Gesundheit und die Verbesserung der Behandlung von Menschen mit psychischen Leiden ist ein Thema, welches glücklicherweise mehr und mehr Beachtung in den Medien findet. Im Bereich der Hilfe für Angehörige– insbesondere der Unterstützung für Kinder von psychisch Kranken – gibt es allerdings noch einen großen Bedarf für Entwicklung. Schätzungen sprechen von 1,5 Millionen Kindern in Deutschland, deren Eltern an einer Psychose oder einer schweren Depression leiden bzw. Alkohol- oder drogenabhängig sind. Dabei sind bestimmte Krankheiten wie Angst- oder Zwangsstörungen nicht aufgenommen (http://www.psychiatrie.de/bapk/kipsy/) . Zudem befinden sich nicht alle Personen mit pychischen Krankheiten in Behandlung oder wurden je diagnostizert. Man kann deswegen davon ausgehen, dass die Gesamtzahl der betroffenen Kinder in Wirklichkeit höher liegt. Trotzdem wurde die Problematik bisher nur vereinzelt thematisiert. Man spricht häufig von den „vergessenen Kindern“.



Ich bin 38 Jahre alt. In den 1980er und 1990er Jahren wuchs ich als Kind bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf. Meine Mutter wurde erst vor wenigen Jahren mit Schizophrenie diagnostiziert und ist seitdem immer wieder wegen akuter Psychosen in stationärer Behandlung. Die Krankheit der Mutter hat sich allerdings schon während der Kindheitsjahre von mir manifestiert und hatte Einfluß auf die gesamte Lebenssituation von mir und unserer Familie.



In einem Versuch den Einfluß der Krankheit auf mich und meine Familie erklärbar zu machen, habe ich ein Interview mit mir selbst geführt.



Frage: Deine Mutter leidet an Schizophrenie. Kannst Du Dich an eine Zeit erinnern, in der sie ohne die Einflüsse der Krankheit war?



Antwort: Nein, eigentlich nicht. Vielleicht in meiner ganz frühen Kindheit? Daran erinnere ich mich allerdings nicht mehr wirklich. Meine Eltern haben sich getrennt als ich acht Jahre alt war, danach lebte ich bei meiner Mutter und hatte kaum Konakt zu meinem Vater. Seitdem habe ich meine Mutter immer als “seltsam” im Vergleich mit anderen Müttern wahrgenommen. Natürlich war unsere Situation nicht an der Tagesordnung in einem kleinen, katholischen Dorf, Mitte der achtziger Jahre. Damals gab es dort nur sehr wenige Familien in denen sich die Eltern getrennt haben. „Scheidungskind“, das war fast wie ein Schimpfwort. Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, dass irgendetwas auch mit meiner Mutter selbst nicht in Ordnung sein musste. Sie war ständig misstrauisch. Auch bei alltäglichen, vollkommen harmlosen Situationen vermutete sie, dass irgendjemand uns oder ihr „etwas Böses“ wollte. Sie hatte und hat große Schwierigkeiten soziale Kontakte aufrechtzuerhalten. Nach einer gewissen Zeit  wurden sie jedem einzelnen Menschen in ihrem Umfeld gegenüber mißtrauisch. Nach und nach hat sie während unserer Kindheit und Teenager-Jahre fast alle sozialen Kontakte abgebrochen, ob dies nun ihre Verwandten –Mutter, Brüder, Schwester- oder Freunde, Bekannte sowie Nachbarn waren. Das Mißtrauen wurde irgendwann immer so stark, dass sie den Kontakt abgebrochen hat.



Frage: Hattest Du einen Begriff davon, dass Deine Mutter psychisch krank war?



Antwort: Nein. Diese Erkenntnis kam erst sehr spät. Ich dachte immer, dass meine Mutter einfach sehr große soziale Schwierigkeiten hatte. Führte das teilweise auch auf die Gesellschaft und mangelnde Anerkennung –geschieden, arbeitslos, finanzielle Probleme- zurück, teilweise auf ihren schwierigen Charakter. Ich hatte keine Ahnung von psychischen Störungen. Das einzige was ich kannte, waren karikaturistisch überzogene Charaktere von Menschen mit psychischen Krankheiten aus Comics oder Filmen. Aber meine Mutter hielt sich ja schließlich nicht für Napoleon oder Jesus! Die Erkenntnis kam erst als ich schon selber erwachsen war und sich einige unmißverständliche akute Symptome zeigten, beispielsweise, dass sie glaubte, jemand wolle sie vergiften oder dass die Nachbarn Mikrofone in ihre Wohnung eingebaut hätten, um sie abzuhören. Aber auch dann hat es noch eine Weile gedauert, bis diese Erkenntnis wirklich bis in mein Bewusstsein durchgesickert ist. Und noch eine Weile, bis ich dies auch anderen gegenüber formulieren konnte. Ich konnte sehr, sehr lange Zeit überhaupt nicht aussprechen, was mit meiner Mutter los war. Es war, als ob sich meine Kehle zuschnüren würde, wenn ich mich jemandem anderen gegenüber über unsere Familiensituation artikulieren wollte.



Frage: Wie hat Dich die Situation als Kind beeinflusst?



Antwort: Ich war ein extrem ängstliches und schüchternes Kind. Die oftmals übertriebenen oder sogar eingebildeten Ängste meiner Mutter haben sicherlich auf mich abgefärbt. Zudem hatte ich keine Möglichkeit ein normales soziales Interagieren mit anderen Menschen zu Hause zu lernen – meiner Mutter fehlte beispielsweise fast jeglich Empathie für andere Menschen. Das von der Gesellschaft erwartete, „richtige“ soziale Verhalten musste ich mir später alles selber beibringen. Vom Rest unserer Verwandschaft waren wir eigentlich immer isoliert und ansonsten existierten –was uns als Familie betrifft- auch nicht viele soziale Beziehungen. Während der Schulzeit hatte ich nur sehr wenige Freunde. Da ich schüchtern war und mich teilweise für die Situation daheim schämte, teilweise meine Mutter auch schützen wollte, fiel es mir zudem noch schwerer, auf andere Gleichaltrige oder auch Erwachsene zuzugehen. Außderdem hat meine Mutter auf Freunde von mir oft negativ reagiert – so war sie eifersüchtig oder mißtrauisch und redete beispielsweise tagelang nicht mit mir, wenn ich mich mit einer Freundin getroffen hatte. Die durchgängig schlechte Finanzsituation in meiner Kindheit und Jugend hat mich auch stark belastet. Zukunftsangst und Niedergeschlagenheit bis hin zu richtig schlimmen Depressionen waren fast alltägliche Gefühle für mich.



Frage: Fühltest Du Dich von Deiner Mutter geliebt?



Antwort: Das ist eine Frage, die für mich sehr schwer zu beantworten ist. Meine Mutter war durchweg überbesorgt, was mich und meinen Bruder anging. Vieles was andere Kinder durften, verbot sie uns aus übertriebener Sorge, es könne uns etwas zustossen. Ich denke schon, dass sie uns geliebt hat und auch immer noch liebt. Allerdings konnte sie diese Liebe auch von dem einen auf den anderen Moment entziehen. Wenn ich etwas tat oder sagte, was ihr missfiel hörte sie einfach auf mit mir zu reden. Ein Zustand, der dann tagelang andauerte. Dies hat sie mit allen Menschen in ihrem Umkreis getan und so erstarben dann alle ihre sozialen Kontakte. Als Kind und Jugendliche hatte ich deshalb lange Zeit die Horrorvision, dass wenn meine Mutter sterben sollte, ich und mein Bruder ganz einsam auf ihrer Beerdigung sein werden.



Frage: Gab es niemanden dem Du Dich anvertrauen konntest oder der auf Dich oder Deine Familie zugegangen ist, um Hilfe anzubieten?



Antwort: Auf mich? Nein. Ich weiss nicht, ob ich einfach so gut darin war, alles hinter meiner „normalen Fassade“ zu verstecken oder ob die Leute einfach weggeschaut und die Situation ignoriert haben. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich jemals jemand angesprochen hat, ob ich Probleme zuhause, in der Schule oder sonstwie hatte. Weder Verwandte, noch Lehrer, der Pfarrer oder noch sonst irgendjemand. Allerdings habe ich mich auch sehr angestrengt, nicht negativ aufzufallen. Ich erinnere mich an eine Situation im Gymnasium, als mich ein Junge, der in der Neo-Nazi-Szene aktiv war, wiederholt bedroht hat. Und ich habe nur denken können „Oh Gott, das darf nicht rauskommen. Ansonsten dreht die Mama komplett durch.“Ich weiss nicht, ob meine Mutter selbst angesprochen wurde. Falls dies der Fall war, wird sie ein solches Angebot aber sicher aus Mißtrauen ausgeschlagen haben.



Frage: Hat sich die Situation mit dem Erwachsenwerden von Dir gebessert?



Antwort: Sehr langsam. Als ich anfing zu studieren, bin ich in eine andere Stadt gezogen. Das war in gewissen Aspekten ein riesiger Befreiungsschlag. Endlich konnte ich über viele Teile meines Lebens selber bestimmen und mich sozial entwickeln. Allerdings dauerte es auch eine ganze Weile bis ich meine Ängste und Schüchternheit überwand. Außerdem hörten die Probleme daheim ja nicht auf, sondern verschlimmerten sich weiter, da die Krankheitssymptome meiner Mutter über die Jahre stärker wurden und sie bis dahin ja weder in Behandlung noch ihre Schizophenie diagnostiziert worden war. Mir fehlte also auch weiterhin eine Vorstellung und ein Name dafür, was eigentlich mit meiner Mutter „nicht richtig“ war. Das kam ja erst viel später, als sie das erste Mal zwangseingewiesen wurde.



Frage: Wie beeinflußt die Krankheit Deiner Mutter Dein Leben heute?



Antwort: Ich habe im Laufe meines Erwachsenenlebens gelernt selbstbestimmt zu leben. Aber die Kindheitserinnerungen sind natürlich immer da und prägen mich. Leider. Zudem ging es meiner Mutter in den letzten Jahren immer schlechter. Sie ist jetzt seit einigen Jahren in der Behandlung, hat aber selber keine Krankheitseinsicht und nimmt die Medikamente nicht so wie sie sollte. Außerdem sieht es so aus als ob die Medikamente auch nur bedingt helfen. Vielleicht war die Krankheit einfach viel zu lange unbehandelt. Wenn sie wieder im Krankenhaus ist, wenden sich die Ärzte und Behörden an uns. Wir Kinder sind schließlich die einzigen Verwandten zu denen meine Mutter überhaupt Kontakt hat. In der Zukunft wird sie sicherlich auch betreut werden müssen. Dann werden wir auch finanziell einspringen müssen. Was mich allerdings persönlich am meisten bewegt, ist das Gefühl, nicht zu wissen, was für ein Mensch meine Mutter eigentlich ist. Man sagt ja immer, der Patient ist nicht die Krankheit. Man “ist nicht schizophren”. Aber bedeutet das für meine Mutter, dass da unter der Krankheit eigentlich eine ganz andere Persönlichkeit verborgen liegt? Gibt es da vielleicht noch irgendwo eine Version von ihr, die Mitgefühl für andere hat und gut mit anderen Menschen umgehen kann, die Freunde haben kann und aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könnte? Ich habe einfach das Gefühl, ich kenne meine Mutter nicht und werde sie nie verstehen können.






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