Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Inventur

Text: kaiserkriegerin
Das Ritual zum Jahreswechsel: Geburtstage in die frischen Kalenderblätter eintragen. Zugleich eine Bestandsaufnahme. Eine ganze Menge "Ladenhüter" finden sich dabei:

Geburtstage, die mir seit langem egal sind, die ich aber – aus Gewohnheit? – immer wieder eintrage. Und die, die ich schon längst nicht mehr eintrage, die aber unlöschbar irgendwo gespeichert sind. Zum Beispiel:



2. Januar

Susi, eine "Schulkameradin". Seit zehn Jahren gibt es sie nur noch zusammen mit Ralf (s. 18. September). Zehn Jahre – mein Gott, und ich komme selbst bei den längsten meiner Beziehungen nicht ohne Dezimalzahlen aus. Vor drei Jahren wurde per Diddl-E-Card zur Pantoffelparty geladen, wo die Schrankwand besichtigt werden konnte und man erfuhr, dass Ralf es kategorisch ablehnt, das Bad zu putzen. Susi zuckt mit den Schultern – und macht's selbst.



21. Januar

Erik: erste große Liebe, erster großer Kummer, erster Sex mit dem Ex. Inzwischen nurmehr eine schöne Erinnerung. Darf hier stehen bleiben und wird auch beglückwünscht.

Früher stand hier auch noch "Wörn", mein Englischlehrer. Ihn trage ich schon seit Jahren nicht mehr ein, warum um alles in der Welt vergesse ich dieses Datum und diesen kaputten Typen nicht? Als ich ihn das vorletzte Mal sah, im Minicafé, wo er oft allein der Bar steht und den Zeiten nachhängt, in denen sich dort noch "die ganze Szene" traf, gab ich ihm meine E-mail-Adresse. Als ich ihn zum letzten Mal traf, eineinhalb Jahre später, hatte er immer noch keinen Internetanschluss, dafür aber den Zettel noch in seinem Portemonnaie. Zusammen mit einem Foto von der wichtigsten Frau in seinem Leben: seiner Mama. Von der zweitwichtigsten Frau ("reine Fickbeziehung") erzählte er mir dann in aller Ausführlichkeit, bis ich die Flucht ergriff. Menschen, die sich selbst als "alte Achtundsechziger" bezeichnen, waren mir immer schon suspekt...



25. Februar

Neben Sandra standen hier früher noch die argentinische Austauschschülerin Cecilia sowie Günter G., mit dem ich (Achtung: Abgründe im Leben der kaiserkriegerin!) Rock'n'Roll getanzt habe, als ich 15 war. Kürzlich traf ich ihn am Geldautomaten, in derselben Jogginghose wie damals. Nach dem üblichen "Unn, wie?"- "Eija, unn selbst?" erfuhr ich, dass er jetzt mit Babsi (27. September) zusammen ist. Damit wäre das Bäumchenwechseldich der Clique von damals endlich vollständig: jetzt hatte jeder jede und jede jeden. Gott sei Dank bin ich rechtzeitig weggezogen.



20. April

Alex, der Arme. Kein schöner Geburtstagstag. Aber kann er ja nichts für, dass andere Leute am gleichen Tag geboren wurden wie er. Netter Kerl, doch ich glaube, er erwartet keinen Geburtstagsanruf mehr von mir, denn aus der Verteilerliste für seine Jahresrückblicke ("Und im Oktober waren wir bei der Omi, da sind wir spazieren gegangen und dann gab's Reh...") bin ich offenbar entfernt worden.



14. Mai

Geburtstag des Bruders meines Ex-Freunds. Kein sooo wichtiges Datum. Aber um diesen Tag rankt sich die schöne Geschichte, wie Wolfgang sich in eine Frau verliebt hatte, die exakt am gleichen Tag geboren war wie er. Leider brach er ihr beim ersten Date aus Versehen mit einer Wippstange auf dem Spielplatz die Nase, da war es leider vorbei. Was hätte das für eine Liebesgeschichte werden können...



18. Juli

Himmel, war ich verschossen in diesen Typen, meinen Nachbarn schräg unten drunter. Er und seine WG schenkten mir ein Piercing, beim Piercen tätschelte er mein Bein und ich wurde ohnmächtig. Kurz darauf kam er mit Sonja zusammen, die die schrecklichste Stimme gleich nach Verona Feldbusch hat. Da war ich beleidigt, und an das Piercing erinnern inzwischen nur noch zwei kleine Narben.



19. August

Tobi, meine Grundschulliebe. Ich glaube, ich hab ihn noch nie zu seinem Geburtstag angerufen. Aber er steht hier, nach wie vor. Unsere Mütter erzählen sich, er sei an meinem ersten Schultag in der neuen Klasse nach Hause gekommen mit den Worten: "Mama, ich hab ne neue Verliebte." Auf der Konfifreizeit hielten wir Händchen, und er kaufte mir ein Eis, und an einem Abend hätte ich ihn nach dem Kontrollgang der Pfarrer fast unter dem Bett vergessen...



18. September

Siehe 2. Januar.



27. September

Siehe 25. Februar.



29. Oktober.

Hier steht schon lange niemand mehr, aber dieses Datum ist unlöschbar gespeichert und mit dem schönen Namen Monty Mangold verbunden (von dem ich nicht viel mehr weiß, als dass wir zusammen zur Schule gingen und dass er Chirurg werden wollte, vielleicht träumt er ja heimlich davon, Emily Erdbeer zu heiraten?) – und mit meinem Mathelehrer und Oberstufenleiter, der darauf bestand, mit "Papa Lipp" angeredet zu werden. Mich schaudert's wieder.



18. Dezember

Hier steht niemand und stand noch nie jemand. Aber wieso weiß ich, dass an diesem Tag der Sohn meiner Blockflötenlehrerin Geburtstag hat? Ich habe ihn nur einmal wiedergesehen, seit er mir nicht mehr wöchentlich die Tür öffnet. Er "schafft" jetzt bei der Stadt und bringt das Geschirrmobil.



... und so geht es weiter, von einem Namen zum nächsten hangele ich mich durch mein Leben. Mechanisch trage ich dann doch alle Namen wieder ein, wie jedes Jahr, und wie jedes Jahr werde ich mindestens 60% all dieser Daten ignorieren, mit mal mehr, mal weniger schlechtem Gewissen. Warum schaffe ich es eigentlich nicht, den einen oder anderen Namen ganz einfach und ganz ehrlich zu vergessen? Ein paar Gewissensbisse weniger pro Jahr würden mir gut tun.

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: