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Politikmüde? Von wegen!

Foto: Josa Mania-Schlegel

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Lehna friemelt an einem Stück Papier herum. Gerade sind da zwei Gestalten durch ihre Straße in Lyon gehuscht, mit Kleistereimer und Plakaten. „Unregierbar! Die Wahl ist abgesagt!“, klebt jetzt fett am Gemäuer. Und eigentlich sieht Lehna das auch so. „Die Wahl ist ein Witz“, stöhnt sie. Dann erwischt sie eine Ecke und reißt das Plakat runter.

Die Huschenden und Lehna — so viel darf verraten werden — werden dieses Wochenende in Frankreich nicht wählen gehen. Genau wie schätzungsweise 50% aller Franzosen unter 25 Jahre. Aus Verdruss, oder wie Lehna: Aus Überzeugung. Überzeugung wovon? 

Lehna, Anfang 20, Kurzhaarfrisur und Knitterhemd, geht wieder in das schwarz gestrichene Haus schräg gegenüber. Auf der linken Hälfte prangt ein Schriftzug: „Konsumiere, schufte und gehe wählen“. Darunter ein fieser Großindustrieller vor qualmender Schornstein-Kulisse. Die Plume Noire, die schwarze Feder, ist ein Buchladen für anarchistische Literatur. Tagsüber gibt es Vorträge, Lesungen, offene Diskussionsrunden. Alles unter einem eingekringelten „A“, dem internationalen Zeichen für Anarchie, über dem Eingang. Abends verwandelt sich die Feder in eine Kneipe.

Jetzt steht die Luft. Gerade ist ein Konzert zu Ende gegangen. „Wir haben Angst, wir haben Angst, wir haben Angst vor Fahrkartenkontrolleuren“ haben drei ältere Frauen gesungen, zu Akkordeon, Bass und Schlagzeug. Dann öffnet die Bar, Bier kostet einen Euro, Wein zwei Euro. Auf dem Tresen liegt die Resistance Libertaires aus. Das Magazin organisierter französischer Anarchisten titelt: „Die einzige sinnvolle Wahl ist Streik!“ Lehna knüllt das Plakat von draußen in den Mülleimer unterm Tresen.

Manche Widerständler legen auch eine Scheibe Käse in den leeren Wahlumschlag

Aber wollen die Plakatierer und die Besucher des Buchladens nicht dasselbe? Ist „Wahl absagen“, oder „streiken statt Wählen“ nicht ähnlich? „Nee“, Lehna schüttelt den Kopf. „Die da draußen sind ein Joke“, sagt sie mit der Wut, die eine Französin in sich haben muss, wenn sie bereit ist Anglizismen zu verwenden. „Die da draußen machen Radau, wir machen Bildung“, erklärt sie. In der Feder wird Anarchismus vermittelt.

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"Die schwarze Feder" - Treffpunkt der Anarchisten in Lyon.

Foto: Josa Mania-Schlegel

Lehna fühlt sich nicht nur von den Kandidaten unverstanden, sondern vom ganzen demokratischen Prozedere. „Wir sollen wählen, um die Welt zu retten, aber die Politik bietet gar keine Lösungen. Deshalb sollten wir nicht an die Urnen gehen, sondern in den Widerstand. Es reicht eben nicht, das kleinere Übel zu wählen. Denn wir wollen ja nicht die weniger üblen Präsidenten. Sondern gar keinen“, sagt Lehna.   

Vielleicht geht Lehna trotzdem zur Wahl — um einen leeren Wahlzettel abzugeben. Die carte blanche ist in Frankreich ein gängiges Protestmittel. Manche Widerständler legen auch eine Scheibe Käse in den leeren Umschlag.

Was Lehna gerade noch „Joke“ nannte, macht sich ein paar Straßen weiter oben, auf einem der Aussichtsplätze über der hügeligen Stadt, bemerkbar. Die Esplanaden sind in Lyon die Fenster zur Stadt. Abends treffen sich hier Verliebte, Touristen, Freunde und gucken runter auf die flimmernde Stadt. Heute Nacht wird es hier nach Graffitifarbe stinken.

Die beiden Huschenden mit dem Kleistereimer sind auch da. Ihre Namen wollen sie in keinem Artikel lesen, sie brauchen auch keinen. Was heute Nacht zählt, ist Masse. Um die 30 junge Leute, Teenager bis Erstsemester, haben sich schwarz in Schale geworfen. Den Aussichtsplatz dekorieren sie mit geklauten Wahlplakaten, egal welche. Immer, wenn jemand neue anschleppt, bricht Jubel aus. 

Dann wird alles vollgesprüht. Die Kandidaten bekommen Hitlerbärtchen. „Jeder Bulle eine Kugel“ schreibt jemand auf ein Plakat. Die Leute nehmen sich Huckepack, sprühen hoch an die Wand: Niemals wählen gehen! Dazu: Das große eingekringelte A. Einige tapezieren die Esplanade mit antidemokratischen Pamphleten voll. „Und jetzt: Das große Spiel“, ruft einer und startet eine Rakete aus seinem Rucksack. Paff! Dunst macht sich breit. Touristen machen einen großen Bogen um die Wolke aus Schwefel und Sprühfarbe. 

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"Die Wahl wurde abgesagt" plakatieren die Anarchisten in der Stadt.

Foto: Josa Mania-Schlegel

Für „Das große Spiel“ ziehen sich acht Teilnehmer selbstgebastelte Masken des mitte-rechts Kandidaten François Fillon an und führen einen kleine Choreographie auf. Sie schleudern die Beine kreuz und quer vor ihre Körper, wie Marionetten. Kleine Zinnsoldaten an Fäden. Dann ist es schon wieder vorbei, Verbeugung und Applaus. Aber eigentlich ist das hier alles ein großes Spiel: Jugendliche Wut macht sich Luft — und lösen sich in Grafittidampf auf. 

 

„Ich wundere mich, warum die Polizei noch nicht da ist“, sagt einer der Huschenden. Als er erfährt, dass die Leute aus der schwarzen Feder ihr Plakat entfernt haben, grölt er los: „Haha, was für Spießer! Oh Mann! Hör mal“, tippt er einen an, „die Plume hat unser Plakat weggemacht, ach komm ey.“ Die selbsternannten Anarchisten von Lyon wohnen Straße an Straße. Beide Gruppierungen lehnen die Wahl ab. Gute Nachbarn sind sie deswegen nicht.

 

„Marx hatte Recht“, sagt der Medizinstudent Sébastian, der kürzlich der „Révolution“ beigetreten ist

 

Ein paar Stunden mit dem TGV nach Süden, in Marseille, gibt es Menschen, die mit den Ideen der Anarchisten sympathisieren — aber trotzdem wählen gehen. Der alte Hafen ist in ein rotes Fahnenmeer getaucht. Jean-Luc Mélenchon kommt, der sozialistische Kandidat, der den europäischen Freihandel lahmlegen und das Wahlrecht für 16-Jährige einführen will — vor allem jungen Franzosen fühlen sich von ihm verstanden.

 

Bevor Mélenchon auf der großen Bühne vor dem Hafen loslegt, verteilen junge Männer Magazine an die strömenden Massen. Marxisten. Für die Kameras strecken sie den linken Arm in die Luft. Marx ist wieder cool?

 

„Marx hatte Recht“, sagt der Medizinstudent Sébastian, der kürzlich der „Révolution“ beigetreten ist. „Früher galt die marxistische Idee den Arbeitern, heute den Studenten“, sagt er. „Viele meiner Freunde müssen sonntags an die Supermarktkasse, damit wir auch am Feiertag einkaufen gehen können. Was für ein Unsinn. Wir sind am Limit — und der Kapitalismus hat uns dorthin manövriert, wie ein Dompteur.“

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Fans des linken Kandidaten Melénchon strömen nach Marseille, um ihr Idol zu sehen.

Foto: Josa Mania-Schlegel

Mit der Révolution organisiert Sébastian Diskussionsrunden. Vor der Unibibliothek fängt er Studenten ab, macht Werbung. „Neulich ging es um die russische Revolution, die ist jetzt 100 Jahre her und aktueller denn je. Nur, dass heute nicht die Zaren gestürzt werden sollen, sondern die Großkapitalisten.“ Wie das funktionieren soll? „Als erstes müssen die Banken abgeschafft werden“, sagt Sébastian und ein Leuchten liegt in seinen Augen.

 

Sébastian will Mélenchon wählen. Kann er die Banken abschaffen? Am alten Hafen spricht der Kandidat von erneuerbaren Energien und einer Kulturflatrate für alle. Das rote Fahnenmeer wedelt ihm energisch entgegen. Aber die Idee vom großen Umsturz? „Mélenchon kann nicht alles erfüllen, was wir wollen“, sagt Sébastian. „Er ist ja selber Kapitalist, aber immerhin kein Dompteur. Mit ihm werden wieder die linken Ideen wieder lauter als die rechten.“ 

 

Sébastian und die Marxisten hätten keine Skrupel, das kleinere Übel zu wählen. Trotzdem träumen sie, wie die Bücher-Anarchisten, die Graffiti-Anarchisten von der Revolution. Vom großen Umsturz der Politiker, Regierung, Banken. Nur: Wohin das alles stürzen soll und was an dessen Stelle tritt, darüber werden sie nicht einig.

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Student Sébastien wird für Mélenchon stimmen.

Foto: Josa Mania-Schlegel

In Lyon, an der großen, vollgesprühten Esplanade, ist das große Spiel zu Ende. Die Herrschenden, in Form der Polizei, sind nicht mehr gekommen. Dafür zeigen sie ein anderes Zeichen der Macht: Am nächsten Morgen ist der Platz wieder blitzsauber. War da was? Als die Dämmerung einbricht kommen schon wieder die ersten Besucher und gucken runter auf die flimmernde Stadt.  

 

Wie die Marine-Le-Pen-Fans und die Anhänger von Emmanuel Macron ticken, kannst du hier nachlesen:

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