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Debatte in der WG-Küche: Treu bleiben oder Fremdwählen?

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Aus über hundert Bewerbern wurden bei einem Casting in Berlin die sechs Bewohner der Wechselwähler-WG ausgewählt. Seit drei Wochen treffen sich die Unentschlossenen nun schon in der eigens zur politischen Diskussion eingerichteten WG-Küche. Ziel des Projektes ist es, jungen Menschen ein Gesicht zu geben, die sich partout nicht auf eine Partei festlegen können oder wollen. Die sechs WG-Bewohner bloggen und diskutieren über die Programme der Parteien, diskutieren mit Politikern am Küchentisch und kommentieren den Wahlkampf im Videoblog, auf studiVZ und über Twitter. Am Wahltag wollen sie dann alle gemeinsam zur Wahl gehen - hoffentlich entschlossen. jetzt.de hat mit den WG-Bewohnern Christine und Paul gesprochen. jetzt.de: Wie seid ihr denn in der Wechselwähler-WG gelandet? Christine: Bei mir hat das vor allem damit zu tun, dass ich bisher eine Art Traditionswähler war. Ich bin zwar in einem offenen und politisch interessierten Haushalt aufgewachsen, hatte aber lange Zeit den Anspruch, dass man einer Partei treu bleiben sollte. Als ich dann zum ersten Mal nicht grün gewählt habe, hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich dachte: Das macht man nicht, man wechselt nicht so einfach die politische Richtung! Jetzt will ich einfach weg von diesem Traditionsdenken und endlich herausfinden, warum es auch sinnvoll sein kann, mal eine andere Partei zu wählen. Die Wechselwähler-WG hilft mir dabei. Paul: Auch ich bin grün sozialisiert worden, allerdings geht meine Grenze der Parteipräferenzen mittlerweile quer durch die Parteien. Um ehrlich zu sein, interessiert mich das Thema Atomkraft nicht so besonders und vom Denken her bin ich eher liberal. Andererseits geht es mir aber total gegen den Strich, dass die Liberalen nur noch eine reine Wirtschaftspartei sind.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Christine und Paul sind zwei von insgesamt sechs Bewohnern der Wechselwähler-WG. Jeden Sonntag sprechen sie in der WG-Küche mit bekannten Politikern. Eva Högl (SPD), Katja Kipping (Linke) und Martin Lindner (FDP) waren bereits zu Gast. Am kommenden Sonntag kommt Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Grünen, zum Pizzaessen vorbei. Woher kommt die Enttäuschung über die Grünen? Christine: Ich habe das Gefühl, dass die Partei machthungrig geworden ist und opportunistisch handelt. Vielleicht ist das auch ganz normal, wenn man mal eine Zeit lang an der Regierung war. Jedenfalls vermisse ich all das, was ich früher so an ihnen mochte: Ehrlichkeit, Prinzipientreue, Menschlichkeit. Als ich letztens mal auf einem Parteitag der Grünen war, ist das wieder kurz aufgeblitzt. Da hat Renate Künast, die erst sehr kühl und unnahbar gewirkt hat, einem weinenden Kind geholfen, seine Mama wieder zu finden. Ich fand das sehr menschlich, weil man gesehen hat, dass sie den Wahlkampf für einen Moment vergessen hat. Diese Szene hat mich wieder an die Partei meiner Kindheit erinnert, als ein Grünen-Politiker ein Mensch war wie du und ich. Du sehnst dich nach Menschlichkeit in der Politik. Ist das auch ein Grund, weshalb du in die Wechselwähler-WG gezogen bist? Ihr habt hier ja jede Woche die Chance, persönlich mit einem jungen Politiker zu sprechen - von Mensch zu Mensch quasi. Christine: Klar, denn Parteien wirken oft abgehoben. Da wünsche ich mir schon manchmal mehr Nahbarkeit, ich möchte einfach den Menschen hinter der Fassade erkennen. Deswegen war die Sache mit Renate Künast auch eine Schlüsselszene für mich. Ich dachte mir: Wenn sie sich mitten im Wahlkampf Zeit nimmt, um einem kleinen Kind zu helfen, dann ist sie als Mensch noch greifbar. Paul: Ich wehre mich eher gegen solche emotionalen Eindrücke. Als beispielsweise Eva Högl von der SPD zur Sonntagsrunde in der WG war, hat die mir ein bisschen zu pathetisch über das Thema Kinder gesprochen. Katja Kipping war da anders, viel sachlicher. Sie hat großes Talent, ist aber leider in der falschen Partei. Wenn man sieht, dass die Linke so interessante Menschen in der zweiten Reihe hat, ist es doppelt schade, dass die Partei mit Gysi und Lafontaine so eine bescheuerte Doppelspitze hat. Christine: Ich fand Katja Kipping auch sehr kompetent, aber sie ist eben auch eine echt schöne Frau und wir haben in der WG Männerüberfluss. Kein Wunder also, dass sie hier gut angekommen ist (lacht).

Hast du dich von Katja Kippings Äußerem blenden lassen, Paul? Paul: Nein, im Gegenteil. Ich habe vorher ihr Buch gelesen, damit ich diese Frau nach sachlichen Kriterien beurteilen kann. Ich glaube sowieso, dass es ätzend ist, wenn man als junge Frau Politik macht und immer auf das Aussehen reduziert wird. Christine: Komm schon, dir gefällt sie doch auch. Paul: Klar ist sie jung und attraktiv. Trotzdem: Durch das WG-Gespräch mit Katja Kipping und den anderen Politikern habe ich gesehen, dass es in jedem politischen Lager noch Leute gibt, die Kompetenz ausstrahlen und Begeisterung vermitteln können. Christine: Nicht dass mich jemand falsch versteht: Auch für mich ist das Emotionale nicht wahlentscheidend. Paul: (lacht) Naja. Christine: Nein, wirklich. Gerade als Mutter finde ich auch, dass sich Eva Högl inszeniert hat, als ich sie fragte, ob sie Kinder hat. Es war plötzlich so, als hätte sie auf den Begeisterungsknopf gedrückt und sie fing an zu erzählen, dass sie zwar keine Kinder habe und wie gerne sie aber doch Patentante wäre. Das war auch nicht das, was ich in diesem Moment hören wollte. Im Gegenteil: Das war genau das Politikerding, das ich nicht mag. Viele junge Wähler teilen bestimmt eure Sehnsucht nach mehr Menschlichkeit in der Politik. Aber ist es nicht naiv zu denken, dass sich Politiker in einem WG-Gespräch, das obendrein auf Youtube zu sehen ist, ehrlicher zeigen als bei Anne Will? Paul: Mir ist schon klar, dass ich hier kein Privatgespräch mit Katja Kipping führe, in dem sie plötzlich anfängt, über Oskar Lafontaine zu lästern. Trotzdem glaube ich, dass das ungewohnte Format der Wechselwähler-WG mit den Politikern etwas macht. Ich glaube, dass sie schon anders reden, wenn sie mit uns in der WG-Küche Pizza essen. Auch wenn ich natürlich weiß, dass ich hier keine großen Geheimnisse zu hören bekommen werde. Christine: Es ist zumindest anders als es oft in den TV-Formaten der Fall ist. Da holen die Politiker weit aus und antworten gar nicht auf die Fragen. Hier sehe ich dagegen schon die Möglichkeit, auch mal ein Stoppzeichen zu setzen, mal nachzuhaken. Wenn man jemandem live gegenüber sitzt, dann spürt man einfach, ob jemand ehrlich ist oder sich nur rausredet. Dann kann ich sagen: Ich habe das Gefühl, du windest dich raus - Was ist da los? Ihr beschreibt euch ganz offen als unentschiedene, weil potenziell wechselwillige Wähler. Ist die Parteientreue von früher, das strikte Lagerdenken nicht mehr zeigemäß? Christine: Es ist eben schwieriger geworden, sämtliche Interessen der Bürger unter einen Hut zu bringen. Da trägt auch die Globalisierung ihren Teil dazu bei. Aber eigentlich fände ich es schon gut, wenn die Parteien ganzheitlicher denken und nicht nur Partikularinteressen vertreten würden. Das ist auch wieder so ein Problem, das ich mit den Grünen habe: Bei all den guten Ansätzen und Ideen in der Umweltpolitik vergessen sie oft, dass es auch noch eine Wirtschaft gibt. Paul: Ich glaube, dass die schwächer gewordene Parteientreue mit einer allgemeinen Zufriedenheit zu tun hat, die sich bei jungen Leuten eingestellt hat. Es gibt keine derart polarisierenden Themen mehr, dass man sich klar positionieren müsste. Man muss einfach neue Wege finden, um junge Leute an die Politik zu binden. Da muss mehr kommen von den Parteien.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Am letzten Sonntag: Paul (2.v.l.), Christine (ganz rechts) und die anderen WG-Bewohner diskutieren mit Dr. Martin Lindner (Mitte) von der FDP. Die Tischgespräche werden aufgezeichnet und sind auf dem Youtube-Channel der Wechselwähler-WG zu sehen. Die Piratenpartei versucht gerade, neue Wege zu gehen. Im jetzt.de-Kosmos stehen die Piraten hoch im Kurs, bei euch in der Wechselwähler-WG spielt die Partei kaum eine Rolle. Paul: Das ist ein hoher Politisierungsgrad den die gerade erreichen, das stimmt. Die Piratenpartei ist ein junges, freches Phänomen und daher natürlich spannend. Christine: Aber die haben halt nur drei Themen. Oder besser gesagt: das Thema Internet in drei Variationen. Das ist plakativ und stört mich. Piratenpartei ist natürlich ein cooler Name, da denkt man gleich an Jack Sparrow. Ich finde die Partei spannend aber momentan unwählbar. Paul: Naja, ich denke schon, dass die Piraten eine wichtige Funktion haben. Ich kann mir zwar gut vorstellen, dass die Piratenpartei in zehn Jahren in der Versenkung verschwunden ist. Wahrscheinlich aber genau deshalb, weil sie es dann geschafft haben, dass ihre Themen im Mainstream angekommen sind und sich auch die Volksparteien damit auseinandersetzen. Deswegen finde ich die Piratenpartei auch sehr sympatisch. Christine: Als ich Eva Högl gefragt habe, ob sie die Piratenpartei für koalitionsfähig hält, hat sie gesagt: Die kenne ich gar nicht gut genug, um das sagen zu können. Die Piraten brauchen also wohl noch einige Zeit, um sich in den Köpfen zu etablieren. Ihr lernt hier die Personen hinter den Parteien kennen, das ist wichtig. Trotzdem: Sollte am Ende nicht das jeweilige Parteiprogramm im Vordergrund stehen? Christine: Das Parteiprogramm spielt hier in der WG natürlich auch eine sehr wichtige Rolle, weil einige von uns da ihre Fragen an die Politiker rausfiltern. Nur so erfährt man, wie die Marschrichtung der Parteien aussieht. Paul: Ich sehe das anders und glaube, dass man auch eine kompetente Wahlentscheidung treffen kann, wenn man die Videos und unsere Blogs und Diskussionen auf www.wechsel-waehler.de aktiv mitverfolgt. Von den Parteibüchern werden doch nach der Wahl sowieso 80 Prozent ungelesen entsorgt. Christine: Trotzdem ist das Programm wichtig, zumindest als Ergänzung. Du kannst einen Abgleich treffen: Was steht drin und was wird dann wirklich gesagt und gemacht? Die Wechselwähler-WG ist ja keine Wohngemeinschaft im echten Sinne, ihr trefft euch nur am Wochenende in Berlin. Wie viel WG-Gefühl kommt da wirklich zwischen euch auf? Paul: Sehr viel sogar. Wir kommen uns hier sehr nahe und gehen zusammen in Berlin weg. Wir sehen uns zwar nur am Wochenende, verbringen dann aber sehr viel Zeit zusammen und es ist schon so, als würde man ein bisschen miteinander leben. Drehen sich eure Gespräche nur um Politik? Christine: Nein, wir kochen auch mal gemeinam Spaghetti Bolognese und reden dabei über andere Dinge. Steht ihr gemeinsam mit den Politikern am Herd? Christine: Nein, aber eines habe ich hier in der WG trotzdem über Politiker am Herd gelernt: Die kochen auch nur mit Wasser. *** Zu welcher Partei Christine und Paul zum derzeitigen Stand ihres Entscheidungsfindungsprozesses tendieren, könnt ihr in ihren jeweiligen Edelprofilen auf meinvz.net sehen. Auf www.wechsel-waehler.de findet man alles weitere zu den Blogs der anderen Bewohner und die Youtube-Videos der sonntäglichen WG-Gespräche mit den verschiedenen Politikern.

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