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"Ich muss mich von dir verabschieden, mein liebes Tagebuch"

Fotograf: Scherl/Süddeutsche Zeitung

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Bei meinen Recherchen für den Film "Was geht mich das an? Die NS-Zeit" bin ich in der Münchner Staatsbibliothek auf das Tagebuch der zwölfjährigen Věra gestoßen, herausgegeben von einem tschechischen Priester.

Es hat mich fasziniert, dass sich das Tagebuch erst mal wie eine unbeschwerte Kindheit liest. Es geht darin um ganz alltägliche Dinge, wie Chemieprüfungen,  Spielenachmittage, die Frage wer ist in wen verknallt. Ich habe in ihrem Alter ein ganz ähnliches Tagebuch geschrieben. Věras Tagebuch könnte also das eines jeden Mädchens sein. Ist es aber nicht.  

Plötzlich checkst du: Věra ist Jüdin, sie muss einen Judenstern tragen, sie darf nur heimlich in die Schule, die bereitet ihren eigenen Abtransport vor und muss sich jetzt von ihrem ganzen Leben, Eltern und Freunden verabschieden!  Diese Gedanken haben mich nicht mehr losgelassen. 

Věra kommt aus Pilsen in Tschechien. Ihre beste Freundin heißt Eda. Meistens geht sie gerne in die Schule. Sie mag es, Musik anzuhören und rätselt mit Eda darüber, welcher von den Jungs vielleicht in sie verliebt sein könnte. Und wen sie selbst süß finden. Nach den Sommerferien beginnt Věra ein Tagebuch zu schreiben. Es ist August 1941.

23. August

Gerade heute ist ein Tag, auf den ich mich die ganzen Ferien, falls man zwei Monate voller Qual so nennen darf, gefreut habe. Am Ende des Schuljahres kam die Nachricht, dass wir Prüfungen auf dem Bürgerschulniveau machen werden. Wir mussten also während der Ferien das lernen, was andere in einem Jahr lernen. War das eine Qual! Diese Woche machte ich also Prüfungen. Schriftlich am Dienstag und mündlich gestern. Sie verliefen für mich gut. Zeugnisse werden wir in der Synagoge bekommen und dabei werden wir jüdische Lieder singen. Ich freue mich schon darauf.

Als Jüdin darf Věra keine normale Schule mehr besuchen. Die Eltern und Lehrer der jüdischen Kinder organisieren heimlich Unterricht, der abwechselnd in den Wohnungen der Familien stattfindet. Die Erwachsenen versuchen die Normalität für die Jugendlichen aufrecht zu erhalten. Umso mehr sind die schulischen Anforderungen hoch, denn die Prüfungen sollen später für einen allgemeinen Abschluss anerkannt werden können.

2. September

Heute fing der Unterricht an. Die erste Stunde hatten wir Tschechisch bei Smolka. Während der Pause haben wir immer viel Spaß. Wir spielen „Pustespiel“. Ein kleiner leichter Ball wird auf den Tisch gelegt und jeder pustet gegen den Ball und gibt sich Mühe, ein Tor zu schießen.

Als Eda und ich von der Schule kamen, begegneten wir Harrýk. Ich glaube, dass ich mehr nach Honza verrückt bin. Ich weiß nicht, für wen ich mich entscheiden soll. Harry ist zwar nicht schön, aber er ist verrückt nach mir. Honza wiederum furchtbar lieb und hübsch. Eda rät mir zu Honza. Ich werde wohl auf sie hören.

11. September

Heute endete die Schule eine Stunde früher. Dafür sollten wir bei der jüdischen Gemeinde erscheinen. Dort haben wir Handzettel mit einer Mitteilung bekommen und diese Zettel sollten wir dann an verschiedene Familien verteilen. Ich habe mich da ganz toll davor gedrückt. Ich sagte, dass ich zu viel lernen muss. Die arme Aliska bekam 180 solcher Zettel. Abends kam Rita zu mir. Sie teilte mir mit, dass sie einen Zettel mit einer Nachricht bekam. Morgen früh sollte sie mit dem Fahrrad zu dem Raum kommen, in dem wir heute Vormittag waren. Hanka genauso.

Die jüdischen Gemeinden müssen bei der Durchsetzung der nationalsozialistischen Restriktionen und Diskriminierungen der jüdischen Bevölkerung im sogenannten „Protektorat Böhmen und Mähren“ mithelfen.

Kathrina Edingers Film "Was geht mich das an? Die NS-Zeit"

 

18. September

Heute war ich mehr in der Gemeinde und beim Rabbiner als zu Hause. Ab morgen werden nämlich alle Juden Abzeichen tragen. Bei der Gemeinde hatten alle damit viel zu tun und deswegen mussten auch wir Kinder ihnen helfen.

 

 

Ab dem 1. September 1941 müssen alle Menschen im Deutschen Reich, die nach dem Reichsbürger-Gesetz als Juden galten, den sogenannten Judenstern tragen.

 

 

3. Oktober

Es ist verblüffend, wie wir uns – Eda und ich – in allem einig sind. Wir haben die gleichen Gedanken. Aber auch was andere Dinge betrifft. Wenn z.B. Eda eine Strafarbeit bekommt, ist es gleich klar, dass ich sie auch bekomme. Heute, kurz nach Mittag, kam der Onkel um mitzuteilen, dass Eda vergessen hat, zum Religionsunterricht zu gehen. Ich war schrecklich erschrocken, denn ich erinnerte mich, dass ich den Unterricht auch verpasst habe. Doch dann fing ich an fürchterlich zu lachen. Ich sagte zu Eda, dass wir beide nicht die gleiche Ausrede haben können und dass wir aber auch nicht beide die Wahrheit sagen können. Wir haben also abgemacht, dass Eda sagt, dass sie schlimme Zahnschmerzen hatte und zum Zahnarzt musste. Und ich werde wohl die Wahrheit sagen. Es ist aber lustig, oder?

 

 

14. Oktober

Hurra! Schon am Ende dieser Woche bekomme ich mein Mäntelchen, den Rock und die zwei Blusen dazu. Heute war ich bei der Anprobe.

Draußen ist es jetzt fürchterlich kalt. Irgendwo hat es sogar schon geschneit. Die Tage sind zur Zeit ziemlich eintönig. Es passiert nichts Interessantes.

 

 

12. November

Oje, ich habe jetzt lange Zeit nicht geschrieben. Ich hatte und werde auch in Zukunft keine Zeit haben. Ich habe in diesem Jahr noch gar nicht angefangen richtig zu lernen. Jetzt muss ich also ganz schnell pauken. Die meisten Sorgen mache ich mir wegen Chemie, und zwar wegen der Bildung von Formeln. Ich verstehe es überhaupt nicht und der Lehrer will es mir auch nicht erklären. Er behauptet, dass ich es schon wissen sollte. Am Freitag werde ich in Chemie und in Mathe sicher vom Lehrer geprüft. Der Unterricht findet jetzt bei mir zu Hause statt.

 

 

23. November

Heute war ein wunderschöner Nachmittag. Ich war bei Aliska. Außer mir waren dort auch noch Irena, Eva, Dolfi und Emil. Es sind ganz hübsche Jungs, vor allem Emil. Der ist vielleicht in mich verliebt. Er hat es irgendwie angedeutet. Hoffentlich werde ich mich auch in ihn verlieben. Bei der Familie Epstein gab es Pudding mit Himbeersoße und Sauerkirschen. Dann hörten wir Grammphon und als wir dann genug davon hatten, spielten wir das Spiel „der Schatz“. Es war ganz einfach wunderbar.

 

 

30. November

Heute, am Sonntag, war ich am Nachmittag bei Aliska. Es waren alle da, wie beim letzten Mal. Es war dort sehr schön. Wir spielten das Spiel „Augenzwinkern“. Emil zwinkerte mir zu und als ich zu ihm kam, zwinkerte mir Eke zu, doch den habe ich nicht mehr erreicht. Emil ließ mich nicht los und es ist mir auch nicht gelungen, ihm zu entkommen. Nachdem ich sagte, dass ich nach Hause gehe, ging Emil auch. Er begleitete mich.

 

 

19. Dezember

Der Rabbi ist aber blöd! Er hat uns einfach ins Klassenbuch eingetragen. Wir hatten heute bis halb zwölf Unterricht. Gleichzeitig fängt der Religionsunterricht an. Wir kamen also zwölf Minuten zu spät. Der Rabbi hat uns Mädchen – die Jungs haben es geschafft, weil sie gerannt sind – ins Klassenbuch eingetragen. Bei Eda machte er noch einen Vermerk dazu, dass sie höchstwahrscheinlich mit Absicht vergessen hat, ihm das Klassenbuch zu geben. Sie gab es ihm aber gleich nachdem sie ihre Tasche an ihrem Platz hingelegt hatte. Angeblich kriegen wir ganz schön viel Ärger.

 

7. Januar

Heute Morgen um acht Uhr bin ich zum Haus des Rabbiners gegangen. Dort waren schon einige Kinder. Ich habe wieder die Handzettel zugeteilt und verschiedene Nachrichten ausgerichtet. Ich war auch in der Turnhalle. Es gab nämlich schon wieder die Registrierungen. Diesmal haben sie in der Turnhalle stattgefunden. Scheinbar werden alle Juden weggebracht. Es werden insgesamt drei Transporte sein. In der Turnhalle findet drei Tage vor der Abfahrt der Juden eine Versammlung statt. In der zweiten Woche soll der erste Transport abfahren und gleich danach der nächste. Heute war ich also in der Turnhalle und erledigt einiges. Dort waren sehr viele Leute. Beim Turnen war ich heute nicht.

 

Ab Dezember 1941 ist es Juden verboten aus Tschechien auszureisen. Unter der Leitung der nationalsozialistischen „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Prag wird die Enteignung und Deportation der tschechischen Juden organisiert. Wieder müssen die jüdischen Gemeinden der Umsetzung ihrer eigenen Verfolgung Hilfe leisten.

 

8. Januar

Es ist jetzt nach dem Mittagessen und ich habe keine Lust etwas zu machen. Mama ist mir ständig böse, weil ich nicht helfe oder nur störe usw.

Um vier Uhr nachmittags gehen wir zur Registrierung. Dort erfahren wir, mit welchem Transport wir fahren werden. Aliska fährt mit dem ersten, Eda mit dem zweiten. Sonst war noch niemand von unseren Bekannten bei der Registrierung. Ich bin also gespannt, wie es laufen wird, was uns betrifft. Ich bin auch gespannt, wie es bei Emil und Dolfi sein wird. Gleich nachdem ich von der Turnhalle aus nach Hause komme teile ich dir mit, mein liebes Tagebuch was ich erfahren habe. ----------

So, Gott sei Dank, schon sind wir zu Hause. Wir waren dort fast drei Stunden. Wir fahren mit dem zweiten Transport. Am Sonntag in einer Woche, am 18. Januar werden wir schon in die Turnhalle gehen und gleich ein paar Tage danach sind wir mit dem Zug unterwegs. Ich muss mich von dir verabschieden, mein liebes Tagebuch. Wir nehmen nur die notwendigsten Sachen mit. Ich bin sowieso schon kurz vor dem Ende des Tagebuches. Ich wollte mir ein zweites anschaffen. Es geht aber nicht. Es tut mir wirklich leid.

 

 

12. Januar

Den gestrigen Tag werde ich bis zu meinem Tod nicht vergessen. Erstens: Es war der letzte Sonntag, an dem ich zu Hause war. Und zweitens: So sehr wie gestern habe ich noch nie geweint. Mama weint ständig und ist furchtbar traurig und sieht alles schwarz. Ich weine mit Mama, weil sie mir leid tut und Hanka weint auch. Wir packen die notwendigsten Sachen und zwar jeder von uns einzeln, denn wir werden dort nicht zusammen sein.

Heute verabschiedete ich mich von Irena und Aliska. Sie fahren schon morgen früh um neun Uhr. Aliska musste ich versprechen, dass ich sie morgen bis zur Turnhalle begleite. Am Nachmittag wurden wir zu denjenigen geschickt, die Hilfe beim Einpacken brauchen. Also waren wir dort. Wir haben Sauerkirschkompott und Mandeln gegessen.

 

 

15. Januar

Der Sonntag kommt leider immer näher. Bei uns ist es immer traurig. Wir alle müssen packen. Gestern habe ich meine Haare schneiden lassen. Ich hatte sehr lange Haare bis zur Hälfte des Rückens. Ich habe meine Haare hinten mit zwei Schleifen zugebunden getragen. Jetzt habe ich kurze Haare. Ich habe mich auch photographieren lassen. Die Photographien sollen angeblich schon morgen fertig sein.

O mein Gott, ich bin schon am Ende des Tagebuches. Tja, ich kann ja sowieso nicht mehr viel schreiben. Wir sind hier nur noch morgen und übermorgen und dann – wer weiß, was dann wird. Heute ist schon der erste Transport von der Turnhalle abgefahren. Übermorgen sind wir dran. Wie werde ich mich, mein liebes Tagebuch, nach dir sehnen! Ich habe wirklich nicht gedacht, als ich im August nach den Prüfungen anfing, meine Erlebnisse aufzuschreiben, dass ich so traurig enden werde. Ich habe zwar in dieser Hälfte des Jahres nicht viele schöne Sachen erlebt, aber wie gerne würde ich doch bleiben.

 

 

Im Januar 1942 werden etwa 2.600 Juden aus Pilsen und Umgebung in drei großen Transporten in das Lager Theresienstadt und in andere Lager deportiert. Věra kommt am 22. Januar 1942 in Theresienstadt an. Sechs Wochen später wird sie in ein weiteres Durchgangslager auf dem Weg in die Vernichtungslager Belzec und Sobibor gebracht. Ab diesem Tag verliert sich Věras Spur. In der Datenbank der Holocaustopfer ist daher der Tag der Deportation und das Ziel des Transportes als Sterbeort angegeben.

 

 

Dieser Text ist Teil einer Kooperation mit dem WDR. In vier Dokumentationen zeigt der Sender Geschichte aus einem persönlichen Blickwinkel. Aus dem Blickwinkel von jungen Menschen. Denn Geschichte ist mehr als Fakten, Ereignisse und Epochen. Es geht um Menschen, ihr Leben und ihre Entscheidungen. Die Filme stellen die Frage: Was geht mich das an? Wie hätte mein Leben ausgesehen? Was hätte ich gemacht? Alle vier Teile und die Texte dazu findest du hier.

 

Wo die Vergangenheit auf die Gegenwart trifft:

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