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Was alles bleibt. Heute: Der Kater

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Ein blendend weißer, einsamer Sandstrand irgendwo in der Karibik. Eine sanfte Brise umschmeichelt meinen braun gebrannten, muskelgestählten Körper, während ich in einer Hängematte gemütlich zwischen Palmen hin und her schaukle. Eine wunderschöne Frau reicht mir fast schon aufreizend zu Reggae-Rhythmen einen Cocktail, als mich Riiiing, Riiiiing, Riiiiing mein Handy aus meinem traumhaften Traum reißt. Ich befinde mich wieder in der rauen Wirklichkeit: Drei-Zimmer-Küche-Bad-Durchschnitts-Haushalt nebst grauem Himmel in Berlin. Statt der säuselnden Stimme einer Karibik-Schönheit begrüßt mich ein genervtes „Alf?!“ – „Ja?“ melde ich mich.
In diesem „Ja“ schwingt unglaublich viel „Nein“ mit. Nein, ich habe keine Lust zu reden. Nein, es ist viel zu früh und vor allem: Nein, mir geht es gar nicht gut.
  Kater. 

  Am anderen Ende ist mein alter Freund und Geschäftspartner, mit dem ich am Vorabend eine Party veranstaltet habe. Besser gesagt: bis heute früh. „Wir müssen bis 10 Uhr wieder vor Ort sein, dann wird das DJ-Equipment abgeholt.“
  Ein Blick auf die Uhr: Beim nächsten stechenden Schmerz ist es 9 Uhr 21 Minuten und 10 Sekunden. Poch. Ein Königreich für Acetylsalicylsäure. „Ich komme“ sage ich, während ich einfach nur liegen bleiben will. Überlebe ich den heutigen Tag? Ich ziehe mich an und muss an meinen ersten Kater denken: Meinen allerersten Rausch mit dem klassischen „Nie-wieder-Alkohol-Kater“ hatte ich mit einem heute aus der Zeit gefallenen Getränk: „Kellergeister“. In den 80ern war das eine echt große Nummer. Jetzt sind die Kellergeister zurecht auf dem Altglashaufen der Geschichte gelandet. „Kellergeister“ war ein halbtrockener Perlwein mit 8,5 Prozent Alkohol. Perlwein darf, anders als Sekt, nur ein ganz kleines bisschen prickeln und auch nur ein ganz kleines bisschen schmecken. Damals warben die Hersteller mit kleinen Teufelchen, die fröhlich im Weinkeller feierten und giggelten. Dieser Spot lief ziemlich oft im Fernsehen, vielleicht war das der Grund, warum die Wahl unserer Clique gerade auf dieses Getränk fiel. 

  Nicht weit von unserer Reihenhaussiedlung entfernt gab es einen Tante Emma-Laden, in dem eine Tante Emma alles Mögliche anbot. (Wenn es sein musste auch Trost und persönliche Zusprache. Heute gibt es so was nicht mehr, weil multinationale Discounterketten uns mit allem versorgen, nur nicht mit Fürsorglichkeit.) Alle Jugendlichen in der Gegend wussten, dass es unsere Tante Emma mit Altersbeschränkungen beim Alkoholverkauf nicht so eng sah. Im Grunde ging sie am eigenen praktizierten Kapitalismus zu Grunde, in dem Geld alles regelte. Das war nun nicht sehr fürsorglich, aber wir wollten ja vor allem den Alkohol.

  Mit unserer Beute ging es zum Spielplatz, der sich in den langen Schatten der furchterregenden Reihenhäuser befand. (Vielleicht war es kein Wunder, dass wir in dieser Umgebung so früh zur Flasche griffen.) Das dünne, billige Alupapier wurde im Nu vom Korken entfernt und der Plastikkorken machte ein trauriges Plopp. Wir fingen an zu trinken und es machte so lange Spaß, bis es in einer Katastrophe endete.

  Ich kam total derangiert nach Hause. Meine Eltern wussten sofort, was los war. In der Nacht stand ein Eimer neben meinem Bett, für den Fall der Fälle. Der Fall trat ein. Die Kellergeister hatten mich erst in ungeahnte Höhen gehievt, mit mir zusammen gelacht und getanzt und mich dann ganz tief runter gezogen. In einen dunklen, feuchten Keller, in dem statt fröhlicher Teufelchen nur grimmige Spinnen wohnten.

  Jetzt, viele Jahre später, stehe ich wieder in diesem Seele-Körper-Souterrain. Ein Kater ist im optimalen Fall eine Katharsis. Er erinnert uns: Nach dem Rausch kommt unweigerlich die Ernüchterung, mit allen negativen Folgen. Doch Menschen lieben es zu vergessen, darum suchen wir immer wieder das Strohfeuer der Begeisterung – nicht nur im Alkohol. Im Konsum, in schönen Frauen oder auf der Jagd nach dem einen Überraschungs-Ei, was in der Sammlung noch fehlt. Ich bin kein Visionär. Doch die nächste Finanzkrise kommt bestimmt. Trotz aller Beteuerungen und noch rettender Rettungsschirme. Andererseits wäre ein Leben ohne Rausch ziemlich – tja – ernüchternd. Darum gilt beim Kater: Das letzte Mal ist immer das letzte Mal bis zum nächsten Mal.

  Einen Kater zu verhindern, dass wäre in etwa so glaubhaft wie ein monogamer Casanova. Und das trotz aller katervermeidenden Strategien: immer Wasser zwischen den Drinks trinken, ein Trinklimit setzen oder einfach Rumknutschen statt trinken. Doch irgendwann in der Nacht sitzen immer die alten Teufelchen aus dem Spot auf meiner Schulter und machen alles zunichte. 

  Die Kellergeister, die ich rief, werde ich nun nicht mehr los. Poch. Beim nächsten stechenden Schmerz ist es 9 Uhr 43 Minuten und 40 Sekunden. Poch.

Text: alf-frommer - Foto: jba/photocase.com

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