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Dolmusch X-press: Straßentheater im besten Sinne

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Warum DJ Templeton so mürrisch ist, lässt sich beim besten Willen nicht ausmachen. Es ist ein warmer Frühsommerabend, der tendenziell zwielichtige Goa-DJ trägt einen schnieken weißen Anzug und sein ebenfalls weißes Mazda-Cabriolet zieht geschmeidig seinen Weg durch den Süden Berlins. Die Fahrgäste entrichten brav ihren Sold für die Kurzstrecke zum Landwehrkanal und lassen sich von DJ Templetons Plänen für die Love Parade berichten. In wenigen Minuten wird zudem Templetons freiwillig angetretene Schicht im Dolmusch-Taxi enden und am Knotenpunkt am Kanalufer, wo die Kanalschiffe abfahren, warten bereits die nächsten Fahrgäste. Knapp zwei Kilometer nördlich, am Oranienplatz haben sich fünf junge Männer in einer wellblechernen Busbahnhofsattrappe postiert und versuchen eingeschweißte, getrocknete Fischchen, mit Limetten- oder Orangenscheiben und in Plastikbeutelchen abgefülltes Wasser, Nagellack, Nagellackentferner und Narva-Taschenlampen aus alten DDR-Beständen und weiteren Nippes an den Mann zu bringen. Natürlich ist dies alles, allen Unkenrufen über Parallelgesellschaften und Kreuzberger Integrationsalltag zum Trotz, nicht gewachsene, sondern inszenierte Realität. In Zusammenarbeit mit dem bereits mehrfach für seine überraschenden Projekte ausgezeichneten Theater Hebbel Am Ufer, kurz HAU, haben Peanutz Architekten und das raumlabor-berlin den Kiez zur Bühne, Prominente zu Taxifahrern und das Leben in der Stadt zum Stück gemacht.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Im Zentrum von Dolmusch X-press steht der neue Verkehrsplan, der ein anderes Raster über Kreuzberg legt und so jenseits vom Alltag in der U-Bahn neue Einsichten ermöglicht. Der Fahrplan von Dolmusch X-press nimmt sich dabei aus wie der Spielplan für Scotland Yard, allein dass nicht die Innenstadt von London sondern Kreuzberg in Berlin bespielt wird. Mit Sammeltaxis, Booten auf dem Landwehrkanal, als Beifahrer von jugendlichen Rollenchauffeuren im Expressbetrieb oder in einer von einem Esel gezogenen Kutsche sollen die Kreuzberger Kieze zwischen Oberbaumbrücke, Landwehrkanal und Spree neu erkundet werden. Dazu gibt es verschiedene ergänzende Projekt und Installationen, in der Spielstädte des HAU gegenüber des Willy-Brandt-Hauses der SPD wird der Zuschauerraum des Theaters zur Sperrmöbelinstallation, im Zentrum Kreuzbergs am Kottbusser Tor lädt eine spanische Künstlergruppe zum erlebbaren Videospiel und im Brachland vor den Toren Friedrichshains ist ein Countryclub entstanden. Was dieser Tage jeweils von 17 bis 22 Uhr in Kreuzberg erprobt wird, mag auf den ersten Blick einfach lustig bis absurd wirken, ist aber so abwegig nicht: Andere Städte in anderen Ländern funktionieren eben genau so, rudimentär und wuselig, anarchisch und absolut marktliberal. In Ostafrika, im Nahen Osten und Mittelamerika ist das, was in Kreuzberg nur inszeniert ist, Wirklichkeit: Sammeltaxis zu Fixpreisen auf festen Routen, Ein- und Ausstieg auf Zuruf, jeder Wagen ein eigenes Universum. An jedem größeren Halt entstehen selbstverständlich Märkte, eben genau dort, wo Menschen und Bedarf sind. Verkauft wird, was sich irgendwie verkaufen lässt, und was kein Mensch braucht wird im Zweifelsfall mit Charme, Humor und bloßer Gesprächsmasse vertickt. Der Witz: Die Knotenpunkte des Dolmusch-Systems liegen oftmals an Orten, die durch die organische, individuelle Routenplanung sowieso Knotenpunkte des Lebens und Verkehrens sind, die aber vom tatsächlichen Nahverkehr nicht angefahren werden. Die so vom U-Bahn- und Busplan ausgeklammerten Orte werden durch Dolmusch X-press zurück ins Zentrum gerückt und der vom Nahverkehr verordnete Blick auf die Stadt aufgebrochen. Andererseits führen die befahrenen Routen durch Gegenden, die – weitab von Bus und Bahn – in einem Dornröschenschlaf dämmern und die man, von ihrer randstädtischen Ästhetik und innerstädtischen Lage und der so entstehenden Seltsamkeit abgesehen, für wenig interessant hielte – wenn einem der Fahrer nicht von den Plänen aus den 70ern, das alles abzureißen und an selber Stelle eine innerstädtische Autobahn zu bauen, berichten würde. Erst Theater und Kunst machen die Wirklichkeit erlebbar und verständlich, die Inszenierung schafft Wirklichkeit, wie es sonst Politik und Wirtschaft vorbehalten ist – wodurch die inszenierte Realität aber nicht weniger real wird.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Dolmusch X-press funktioniert sehr unmittelbar, sehr spielerisch. Natürlich ist die Gefahr groß, dass all das, die Kutsche, die Boote, die Taxis, die Jungs am Schlesischen Tor, die ihren Kiez vorstellen, das real-live Computerspiel am Kottbusser Tor und der Bahnhofsstraßenverkauf am Oranienplatz allein als bizarrer Rummel, als sinnloses Vergnügen missverstanden werden. Andererseits ist das Was-wäre-wenn, wird die Frage nach den Auswirkungen tatsächlich stattfindender Veränderungsprozesse wirklich greifbarer. Das Stück belässt es nicht dabei, das „Eine andere Welt ist möglich“ zu formulieren, das Stück schafft diese andere, nicht unbedingt bessere Welt ganz einfach selbst. Dolmusch X-press spielt durch, wie ein Deutschland aussehen würde, in dem öffentlicher Nahverkehr mit anachrsicher, marktliberaler Nonchalance daher kommt und in dem Kleinbusse auf nachgefragten Routen verkehren. Vor allem aber rückt Dolmusch X-press die Prozesse ins Rampenlicht, die tatsächlich gestalterisch in Alltag und Leben eingreifen. Da baut jemand einen gigantischen Bahnhof im zentral gelegenen Nichts und legt die angestammten Routen still, da verkehren Busse auf wichtigen Routen maximal im Halbstundentakt und all das prägt die Weise, wie man sich seiner Stadt, seinem Alltag, seinem Leben und so dieser Welt nähert. Wer die unhinterfragt angestammten Routen verlässt, Bewegungsmuster aufbricht und sich auf den Weg macht, stellt wird feststellen: Eine andere Welt ist also nicht einfach nur möglich, sondern längst da. Man muss sie nur sehen wollen. Vom 10. bis 13. Mai präsentieren das HAU, raumlabor-berlin und Peanutz Architekten die zweite und letzte Runde von Dolmusch X-press. Die Tageskarte, die zur Fahrt mit allen Transportmitteln, zur Teilnahme an allen Teilveranstaltungen und zum Eintritt in alle Schauräume und zur abschließenden Show im Kochstudio berechtigt, kostet regulär 10 Euro, ermäßigt 6 Euro. Karten gibt es im HAUbahnhof am HAU1 oder im Reisebüro am Schlesischen Tor. Kurzstreckeneinzelfahrten sind mit allen Transportmitteln möglich und kosten je 1 Euro. Alle weiteren Informationen finden sich auf den Seiten des HAU und des Projekts.

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