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Armut hat Gesichter
Das Shirt, das Lina trägt, könnte aus der Tüte sein, die ich letztes Jahr in die Altkleidersammlung gegeben habe. Viele Albanerinnen haben meine kleine Statur. Es sitzt perfekt. Lina wirft bestechend braune Haare über ihre Schulter und blinzelt in die untergehende Sonne. An der Wand neben ihr hängt ein verdächtiges blaues Plakat mit verdächtig gelben Sternen darauf. Albanien träumt von Europa. Ich bin ein bisschen müde. Wir mussten zwei Stunden über gerölliges Bergland wandern, um in ihr Dorf zu kommen. Lina spricht perfekt Deutsch und übersetzt bei unseren Hausbesuchen. Wir sind ein paar Theologie- und Medizinstudenten aus Deutschland und haben unseren Glauben an Jesus und ein paar medizinische Hilfsmittel im Gepäck auf Mauleseln ins Dorf bringen lassen. Die Männer im Ort fragen, wann wir ihnen eine Straße bauen. Die Frauen fragen, wann wir eine Kirche bauen. Was wir von Jesus erzählen, hören sie höflich, so höflich, wie sie unseren versuchsweise nach albanischen Mischungsverhältnissen von Kaffee und Zucker hergestellten Sud loben. Unsere medizinischen Ratschläge hören sie höflich, fast ebenso höflich, wie sie uns ihren Kaffee anbieten. Nach unserem Besuch ziehen sie den aseptischen Wundverband ab, schlagen eine Seite der geschenkten Kinderbibel um den wunden Fuß und bestreichen ihn mit einer Eier-Sahne-Tinktur. Erst nach mehrfachen Besuchen und endlosen Erklärungen lassen sie den aseptischen Verband dran, klingt die Wunde langsam ab.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Eine albanische Frau überquert die Grenze zu Mazedonien
Es ist ein seltsames Gefühl zu wissen, dass uns im Falle einer schwerwiegenden Erkrankung jederzeit ein Hubschrauber hier rausholen würde, der Mann mit der blutenden Stichverletzung im Bauchraum aber bis zur nächsten Busstation laufen muss. Im Sonnenuntergang übersetzt Lina uns die Zwischentöne der Gespräche mit den Dorfbewohnern, erzählt sie von den Zeiten im Dorf, in denen kein Deutscher da ist. Dann dient die Schule, dient auch die früher gebaute Straße als Baumaterial, um die Häuser winterfest zu machen. Und wenn wir den Zustand der Schule überschlagen, ahnen wir, warum eine Kirche langsam dringend nötig sein könnte. Lina ist dankbar, dass wir da sind. „Die Leute hier müssen umdenken!“, sagt sie. „Sie wollen reich werden und machen besinnungslos alles zu Geld, was sich zu Geld machen lässt.“
Besinnungslos. Wenn Redi, der uns wohlgesonnene Dorfalte, von früher erzählt, klingt die Besinnungslosigkeit wie die natürlichste Sache der Welt. Unsentimental weist er auf den sternenintensiven Himmel. „Den hat man früher gar nicht gesehen. So dicht war der Wald. Alles dunkel hier.“ Der Wald? „Jetzt wächst hier kein Baum mehr. Das ist auch nicht gut. Die Böden gehen kaputt.“ Wenn man sich zum nächsten Ortsteil bewegen will, hangelt man sich quer am Abhang entlang, über Sturzbäche, die gelegentlich Rinnsale, gelegentlich Fluten sind. Sie graben sich tief in die Oberfläche und füllen das Flussbett im Tal mit Sedimenten. Junge Albanerinnen zeigen auf ihnen Grazie in Stöckelschuhen. Bodenerosion muss man niemandem erklären. Man sieht sie. Für das Aufforsten ist es zu spät, für Sentimentalität ebenso. Was noch oder wieder steht an Gehölz, braucht man als Brennholz. Wer heute nichts hat, muss nicht darüber nachzudenken, dass er morgen auch noch etwas davon braucht.
Was die jungen Leute sehen von Europa, ist ein Versprechen. Das Versprechen von gepflasterten Straßen, monatlichen Gehältern, Shops, in denen man diese Gehälter in schicke Klamotten umsetzen kann, Berge von Obst und Gemüse und überhaupt Lebensmitteln in riesigen Märkten. Wenn meine albanischen Freundinnen mich besuchen kommen, weicht der Glanz nicht aus ihren Augen. Sie sehen nur das Große, die Fülle, den Lifestyle, die Verheißung.
Schönheit und Stil wird nicht von Designern gemacht. Aurela und Aurora stahlen jeder Schau den Glamour auf meinem Balkon in den Klamotten, die sie frisch bei H&M erobert hatten, lachen in Digitalkameras und imitieren Paris Hiltons scheuen Schulterblick, ohne dass es sie im mindesten interessieren würde, in welchem armen Land der Welt Menschen viel zu wenig Geld dafür bekommen hatten, sie zu nähen. Ich denke an den aufgeweckten Jungen aus der Kinderstunde im Bergdorf, der zu allem und jedem eine Frage hatte. Er konnte nicht lesen und Lina rechnet mir vor, warum. Im Winter kann die Schule nicht geheizt werden und viele Kinder bleiben daheim. Im Frühjahr und im Herbst, da sind die Wege nicht passierbar, weil der Fluss zugefroren ist oder zu viel Wasser führt. Im Sommer sind drei Monate Ferien, weil die Kinder in der Landwirtschaft helfen müssen. Meine beiden Freundinnen sind angehende Lehrerinnen und rümpfen die Nase über die ungebildeten Dörfler. Ihr Übersetzerdienst für uns bringt sie in Kontakt mit Menschen, deren Nöte sie für selbstverschuldet und dumm halten.
Wenn ich Bekannten erzähle, was mit den wenigen Mitteln passiert, die wir ins albanische Bergdorf bringen, fühlen sie sich in all ihren Vorurteilen über Entwicklungshilfe bestätigt. Sie sehen förmlich ihre mühsam erarbeiteten Steuergelder in der heruntergekommenen Schule verrotten und rechnen sich aus, wieviel Stunden sie dafür am Schreibtisch sitzen mussten, dabei stammen diese Gelder nicht von ihnen. Nach so einem Stadtbummel mit Aurela und Aurora sitzen wir abends zusammen und unterhalten uns über unsere Länder. Sie verstehen die Entwicklungshilfesteuergeldarbeitsstundenberechner. Ich leide dafür mehr an der Chancenungleichheit der Dorfbewohner. Ich bin ein schlechter Gastgeber, vergesse, Getränke nachzuschenken und habe nur Pasta da. Albanische Gastgeber holen Lammfleisch aus der Kühltruhe, verschiedene Beilagen, buntes Gemüse, Gebäck in viel Zuckerwasser und alles, was zu einem abendlichen Festmahl dazu gehört. Die Männer stoßen in hierarchischer Reihenfolge mit selbstgebranntem Raki auf das Wohl der Gäste, ebenfalls in hierarchischer Reihenfolge, an. Damit vergeht der Abend. Wir sind Könige bei ihnen und ihre Frauen verschwinden in den Küchen der Häuser.
Die Welt ist keine Scheibe, schön flach, eindimensional, überschaubar und gerade, begrenzt. Das war eine Erkenntnis, die zunächst viel Skepsis, viel Widerstand, viele neue Fragen und dann neue Welten eröffnete. Freundschaften zu Albanern geben meiner Welt eine neue Dimension. Sie ist um ein paar Fragen reicher geworden und um ein paar einfache Antworten ärmer. Ich ziehe nicht verständnislos die Augenbraue nach oben, wenn der albanische Punkteansager beim Grand Prix die norwegische Moderation fragt: „Wie geht’s?“ Albaner sagen nie einfach Hallo, sie fragen stattdessen, wie es einem geht. Und dann fragen sie, wie es Mutter geht und Vater geht. Und dann fragen sie, wie es Großvater geht und Großmutter geht. Die norwegische Moderatorin ist gut weggekommen. Ich habe die Geste von Freunden wiedererkannt. Rund ist meine Welt noch nicht, aber besser. Viel besser.
Stefanie Schwenkenbecher ist 29 Jahre alt und studierte Theologin. Aktuell arbeitet sie als Inspektorin der Stiftung Theologisches Studienhaus in Greifswald und bereitet sich auf ihre Promotion in Praktischer Theologie vor.
Text: jetzt-redaktion - Foto: Reuters