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Das Leben der Träume
Die Kugel zischte sehr nah an ihr vorbei. Unwillkürlich schloss sie ihre Augen und spürte wie Zweifel und Angst in ihr hochstiegen und sie zu erdrücken drohten. War es wirklich das, was sie wollte? Gab es keine andere Möglichkeit den Menschen zu helfen? Warum musste gerade sie, noch so jung und am Anfang ihrer Karriere ihr Leben riskieren? Und noch während sie nach Atem rang und ihr Puls unter Kontrolle zu kriegen versuchte, kam ihr auch schon die Antwort. Richtig, sie war hier weil sie das Geld für ihr Medizinstudium brauchte. Von dem Direktor war ihr damals ein Stipendium in Aussicht gestellt worden, eine der Bedingungen lautete jedoch: ein drei Monate langes Praktikum im „Brennpunkt“ ihrer Heimat zu absolvieren. Sie wusste genau was es hieß: Abhasien, eine der verbittertsten Fronten ihrer Heimat um ein winziges Stückchen Land. Das Semester nahte und sie gab ihre Zustimmung. Jetzt war sie schon seit 2,5 Monaten hier. Kleine, unauffällige Krankenschwester im Feldhospital. Normalerweise war ihr Aufgabenfeld sehr übersichtlich und alles andere als mysteriös. Sie verband die Wunden ihrer Patienten, wechselte Verbände, verabreichte Medikamente. Wie alle anderen jungen Frauen träumte sie von einem erfolgreich abgeschlossenem Studium, von einem erfüllendem Beruf, Karriere und natürlich auch von der großen Liebe. Insgeheim hoffte sie später mal ein langersehntes Medikament zu erforschen und dafür den Nobelpreis zu erhalten. Jetzt hat sich vieles geändert. Sie war müde und erschöpft von diesem Krieg. Jedes mal, wenn sie sich die Soldaten, die ihre Heimat „verteidigten“ anschaute, musste sie erschrocken feststellen, dass es sich dabei nicht um erwachsene, gut ausgebildete Männer handelt, sondern um Jungs, fast alle in ihrem Alter, die diesen Krieg noch weniger brauchten als ihre Heimat. Auch ihr Aufgabenfeld ist seit einer Woche anders geworden. Aufgrund der langen, zu lang andauernden Fronten, wurden viele Sanitäter und Feldärzte getötet, deren Aufgabe es war, Verwundete vom Schlachtfeld zu holen oder sie dort zu verarzten. Jetzt war sie es, die mit zwei verbliebenen Sanitätern und anderen Krankenschwestern losziehen musste, um verwundete Soldaten aus dem Schlachtfeld zu evakuieren und dann mit einem Wagen ins Hospital zu bringen. Erst wenn sie wie jetzt, auf dem mit verwundeten Soldaten übersäten Feld war, wurde ihr das Ausmaß dieses Krieges so richtig klar. Überall wo man hinschaute, waren Blut, entstellte Körper und abgerissene Körperteile zu sehen. Verwüstete Landschaft, Qualm und brennende Panzer gehörten wie selbstverständlich zu dem Bild. Von all den üblen Gerüchen und nicht aufhörendem Schreien und Stöhnen der Verwundeten wurde ihr hin und wieder richtig übel. Doch hatte sie auch jedes Mal keine andere Wahl, als sich zusammen zu reißen und weiter zu machen. Noch eine Wunde verarzten, noch einen Verletzten auf die Tragbahre zu laden, noch einem bereits toten Soldaten die Augen zu schließen. Einfach weiter und weiter, am besten ohne nach zu denken, denn sonst wäre ihre Lage für sie emotional noch unerträglicher geworden.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Bild: dpa Nicht selten in diesen Tagen mussten sie die Verwundeten noch während der Kämpfe oder in den kurzen Pausen dazwischen verarzten und ins Hospital transportieren. Für heute waren die Kämpfe jedoch schon hoffentlich vorbei. Es dämmerte bereits und die vermeintliche Frontlinie war schon schwer zu erkennen. Doch auch jetzt befand sie sich immer noch in höchster Gefahr. Überall lauerten Soldaten von der „feindlichen“ Seite, die aus Hass sogar Ärzte und Krankenschwestern erschießen würden. Sie war sich dieser Gefahr bewusst, war ziemlich erschöpft und niedergeschlagen und fragte sich wieder einmal, ob sie sich nicht zu viel zugemutet hat. Der zweite und somit der letzte Hospitalwagen war schon fast vollbeladen. Sie schaute sich noch einmal um und hoffte inbrünstig alle notleidenden Soldaten entdeckt zu haben. Fast war ihr Schlachtfeldausflug für heute vorbei. Hoffentlich für immer vorbei, dachte sie. Wie viel würde sie doch geben, wenn dieser Krieg endlich aufhören würde! Alle ihre bisherigen Wünsche und Träume kamen ihr sehr klein und unbedeutsam vor, wenn sie an den Traum vom ersehnten Frieden dachte. Mit einem langen Seufzer drehte sie sich um und ging zum Wagen. Ein leises Stöhnen hielt sie jedoch zurück. Schnell lief sie in die Richtung, wo sie meinte es hergehört zu haben. Auf ihr Rufen eilten auch die anderen Sanitäter zu ihr herbei. Der stöhnende Soldat hatte mehrere offene Wunden und einen höchstwahrscheinlich gebrochenen Knochen am Bein. Wegen den heftigen Schmerzen, die er ertragen musste, verlor er sein Bewusstsein. Sie beugte sich über ihm und fing an, die Kleidungfetzen um seine Wunden herum zu entfernen, damit der Arzt freieren Einblick auf die Wunden hatte. Verwundert stellte sie fest, dass ihr kein anderer ihrer Kollegen zur Hilfe eilte. Sie blickte hoch und sah, dass sie in einem Kreis um sie herum standen und sie ungläubig anstarrten. „Was ist mit euch los?“ fragte sie verärgert, „helft mir, sonst verblutet er bald!“ „Siehst du denn nicht, dass er zu den „Anderen“ gehört?“ fragte der junge Feldarzt ungläubig. Sie schaute zu dem Verwundeten herunter. Stimmt. Er hatte eine andere Uniform an und eine für Abhasien typische Erscheinung. Ein „Feind“ also. Der Mann stöhnte lauter. Keiner bewegte sich. „Was ist los mit euch?“ fragte sie noch einmal, „Er ist verwundet, seht ihr das nicht? Wir sind verpflichtet ihm zu helfen. Lasst uns ihm ganz schnell die Wunden verbinden und auf dem direktem Wege in das Hospital bringen.“ „Nein, hör mal, tut mir Leid, aber ich will nicht unbedingt von ihm abgeschossen werden, nach dem ich ihm geholfen habe“, sagte der jüngere Sanitäter und ging wieder zum Wagen. In diesem Moment öffnete der Mann seine Augen. Ihre Blicke kreuzten sich und sie zuckte unwillkürlich zusammen. Wieviel Leid und verborgene Sehnsucht lag in diesem Blick! Er flehte mit diesem Blick regelrecht um Hilfe, doch kein einziger Satz kam über seine Lippen. „Lasst uns ihm helfen!“ forderte sie die verbliebenen Kollegen mit Nachdruck auf. „Er ist verwundet und sieht doch absolut ungefährlich aus!“ Alle schauten sie immer noch ungläubig an. „Siehst du wirklich nicht, dass er zu den Gegnern gehört? Oder willst du einfach im Hospital Ärger haben?“ fragte die andere Krankenschwester Marina und drehte ihr den Rücken zu. „Ich will auf keinen Fall die Absolvisation meines Praktikums riskieren. Kannst du ja machen, wenn du willst.“ sagte sie noch über die Schulter und ging gefolgt von anderen zwei. Hin und her gerissen zwischen dem Wunsch diesem Soldaten zu helfen und der Angst Ärger zu bekommen stand sie noch einen Augenblick unentschlossen da. Der Gedanke an friedliche Dörfer und blühende Landschaften half ihr den schweren Beschluss zu fassen. Mit großer Anstrengung lud sie den Mann auf ihren Rücken und versuchte so aus der Hocke aufzustehen. Unter seinem Gewicht brach sie fast zusammen. Ihr wurde schwarz vor Augen und das laute Stöhnen des Mannes rief in ihr Übelkeit hervor. „Jetzt nur nicht schwach werden, nur nicht aufgeben“, betete sie still und machte den ersten Schritt zum Wagen. Der Boden schwankte unter ihr, Schweiß lief ihr den Rücken runter und sie setzte den nächsten Schritt nach, aus Angst sich überhaupt nicht mehr bewegen zu können. Von links kamen wieder Schüsse. Das gab ihr das nötige Adrenalin, sie setzte gebückt in Laufschritt über, überquerte das Schlachtfeld und erreichte den Rettungswagen. Der Verwundete wurde von ihr auf einen winzigen, übrig gebliebenen Platz gelegt, die Kollegen vermieden, sie anzuschauen. Doch sie bemerkte eine gewisse Bewunderung in ihren Augen. Sie konnten es immer noch nicht verstehen, warum man für den gegnerischen Soldaten sein Leben und Praktikumsbestätigung riskieren sollte, ließen sie aber in Ruhe. Sie lächelte still vor sich hin. Der Mann wird überleben, der Chefarzt wird ihn behandeln, und... „Ich werde ihn bestimmt nicht behandeln!“ der Chefarzt funkelte sie böse an, „Was fällt dir eigentlich ein?“ „Sie müssen aber! Sie sind ein Arzt! Wie soll denn der Frieden kommen, wenn sogar im Herzen der Menschen mit so einem friedlichen Beruf Hass herrscht?“ Der Chefarzt guckte sie etwas beschämt an, fing sich aber wieder. „Es ist dir hoffentlich klar, dass nach diesem Vorfall dein Praktikum nicht anerkannt werden kann, oder?“ Ihre Enttäuschung würde sie ihm um keinen Preis zeigen. Tränen schossen ihr in die Augen, doch sie schaffte es, sie runter zu schlucken. Schnell drehte sie sich um und wollte gerade den Raum verlassen, als sie laute Schreie aus dem benachbarten Krankenzimmer hörte. Sie lief gerade noch rechtzeitig in das Zimmer rein, um den nächsten Mord zu vermeiden. Ein junger russischer Soldat war kurz davor, den verwundeten Südländer zu erschießen. Sie schritt dazwischen. „Bevor du ihn erschießt, musst du erst mich umbringen“, sagte sie entschlossen. Ihr Praktikum wird nicht anerkannt, Uni kann sie jetzt vergessen, also hatte sie nicht mehr so viel zu verlieren. Der wütende Mitbewohner des verwundeten Abhasier lief mit Krücken, war aber entschlossen den „Feind“ hier und jetzt zu beseitigen. „Geh weg, Verräterin!“ schrie er, „sonst seit ihr gleich beide tot!“ Sie blieb ruhig stehen und fragte ihn statt dessen: „Bist du eigentlich freiwillig im Krieg?“ Verdutzt schaute der Russe sie an und ließ kurz die Waffe herunter. „Nein. Aber daran sind diese hier schuld“, er zeigte mit der Pistole auf den Südländer, „die sind auch daran schuld, dass ich wahrscheinlich mein Bein verlieren werde...“ ein Kloß stand ihm im Hals und er hielt wieder die Waffe hoch." Solche wie er haben Ivan und Alex umgebracht, früher oder später kommen sie in mein Dorf und dann sind Mama und Nastjuscha dran. Tut mir Leid, das riskiere ich nicht!“ Er schluckte und zielte durch sich hindurch. Sie war müde. Müde von diesem Krieg, von diesem Unverstanden sein. Was nutzte es ihm zu erklären, dass der vor ihr liegende, bewusstlose, fast verblutende „Gegner“ auch nur seinen Militärdienst leistete und bestimmt nicht freiwillig im Krieg war? Sie würde es ihm nicht erklären. Der ihr gegenüber stehende Junge, der bald wahrscheinlich für immer behindert sein würde, wusste es selbst genau. Die aufgerichtete Pistole war nur ein Symbol für seine nackte Wut und Hilflosigkeit. Sie blieb einfach stehen, wartete ab, was geschehen würde. Hinter ihr hörte sie eine leise Stimme. Der verwundete „Feind“ versuchte gerade etwas zu sagen. Sie sah ihn an, er sah ihr tief in die Augen, sein Bewusstsein war längst wieder zurück, er hat die ganze Situation mitverfolgt. „Ich bin kein Soldat“, sagte er, „ich bin ein Journalist. Ich schreibe politische Reportagen für die populärste Zeitung Abhasiens. An die Front bin ich aus Versehen geraten.“ Er rang mühsam nach Atem. „Ist aber auch besser so. Wenn ich überleben werde, sorge ich dafür, dass jeder einzelne Soldat, Offizier oder auch ein einfacher Bürger von der humanen Behandlung der gegnerischen Soldaten im russischen Hospital erfährt. Es soll jeder erfahren. Vielleicht behandeln sie dann eure Bürger bei uns genauso. Dann sind wir dem Frieden als Menschen, nicht als Soldaten oder Offiziere, nicht als Russen oder Abhasier, sondern als einfache Menschen schon einen ganzen Stück näher.“ Er sank zurück, schloss seine Augen, verlor bestimmt schon wieder das Bewusstsein. Im Krankenzimmer war es ganz still. Die aufgerichtete Pistole ist verschwunden, keiner sagte auch nur ein Wort, niemand schaute den Anderen an. Sie ging leise aus dem Zimmer, schloss die Tür hinter sich zu und lehnte sich an den Türrahmen. Sie hörte keinen Applaus, ihr wurde kein Nobelpreis überreicht, niemand schenkte ihr Blumen. Und doch fühlte sie sich glücklich. Sie hat einen Kampf um ein einziges Menschenleben gekämpft und hat ihn gewonnen. Dafür stand die Anerkennung ihres Praktikums und somit auch ihr Traum, Ärztin zu werden auf dem Spiel. Sie hat den Frieden nicht hergestellt. Morgen wurde weiter gekämpft, weiteres Blut wurde umsonst vergossen. Aber sie, eine einfache Krankenschwester, sie hat das Weltbild vieler Menschen verändert, einen kleinen Schritt in Richtung Frieden gemacht. In Richtung friedlicheres Leben. Das Leben ihrer Träume. Viktoria Gerz ist 19 Jahre alt und bereitet zur Zeit ihr Abitur am evangelischen Gymnasium in Meinerzhagen vor. Geboren und aufgewachsen ist Viktoria in Almaty (Kasachstan). Vor sechs Jahren kam sie nach Deutschland.