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Woher der Hass? Bürokratie

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In der Broschüre „Selbstständig – wie die Rentenversicherung Sie schützt“ aus der Reihe „Ich und meine Rente“, herausgegeben von der deutschen Rentenversicherung, ist im Abschnitt „Seelotsen“ Folgendes zu lesen: „Als freiberuflicher Seelotse, der im öffentlichen Auftrag tätig ist, sind Sie ebenfalls pflichtversichert. Diese Regelung gilt jedoch nicht für Binnenlotsen, die Travelotsen und die Lotsen der Flensburger Förde.“ Die beiden kleinen Sätze sind ein prototypisches Stück Bürokratie: Sie enthalten eine allgemeine Regel für einen Mini-Bereich der Gesellschaft, eine obskure Ausnahme für einen noch minimäßigeren Bereich und unverständliche Wörter („Travelotse“).
 
Dieser Mix ist der Brennstoff für den Hass auf die Bürokratie, ein Hass, der vielleicht weiter verbreitet ist als jeder andere, er lodert überall in der Gesellschaft, oben und unten, links und rechts, vorne und hinten, vermutlich sogar bei Travelotsen und Lotsen der Flensburger Förde. Selbst der große Asterix gilt als Verächter der Bürokratie, weil er bei seiner Eroberung Roms fast an ihr gescheitert wäre, am berüchtigten Passierschein A38, dem großen Symbol für die irre gewordene Amtsherrschaft. Der Hass auf die Bürokratie ist so groß, dass es schon ausgedachte Beispiele braucht, um ihn belegen zu können, die Realität ist da schon viel zu schwach. Inzwischen wird ja auch darauf hingewiesen, dass die berühmte EU-Verordnung zum Krümmungsgrad von Gurken zum einen gar nicht von EU-Beamten ersonnen, sondern auf den Wunsch der Industrie eingeführt wurde, und zum anderen schon längst wieder abgeschafft ist.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Bürokratie-Hass trifft auch Quantenphysik und Baseball - alles viel zu kompliziert!
 
Schwer hat es, wer jemanden finden will, der die Bürokratie in Schutz nimmt, da kann man gleich einen suchen, der die Vorzüge von juckendem Hautausschlag oder Fluglärm erklären soll. Die Zeit hat es vor zwei Wochen trotzdem geschafft und zitiert in einem Artikel den Rechtshistoriker Uwe Wesel. Wesel sagt einen wunderschön unbürokratischen Satz: „Die Welt wird ja immer komplizierter, und je komplizierter die Welt wird, desto mehr muss vereinheitlicht und geregelt werden.“ Wer sich also nicht nur über Auswüchse und Schwachstellen der Bürokratie aufregt, sondern dieses Monster aus der Tiefe seines Herzens wirklich hasst, der hasst also vor allem: die Welt. Dafür, dass sie ständig immer komplizierter wird.
 
Es gibt eine soziale Gruppe, in der diese Haltung besonders verbreitet ist, oft wird sie ziemlich diffus mit Stichworten wie „Stammtisch“, „EU-Gegner“ und „Männer“ umschrieben. Man könnte die Gruppe nach einer sehr schönen Comic-Reihe von Leonard Riegel die So-einfach-ist-das-Männer nennen. Das Auffällige an den So-einfach-ist-das-Männern: Sie hassen zwar Bürokratie, Regeln aber lieben sie. Sie sagen gerne Sätze wie: „Ausländer sollen sich hier an die Regeln halten, so einfach ist das. Und die Eurokraten in Brüssel mit ihren Verordnungen müssen weg!“
 
Die So-einfach-ist-das-Männer lieben das Einfache, und zwar um jeden Preis, also auch dann, wenn das Einfache gar nicht mehr weiterhilft. Früher kannte man die paar Berufe, die es gab. Aber was weiß man denn heute schon von den Unterschieden zwischen den Lotsen der Kieler Förde und den Travelotsen? Was wusste denn Asterix aus dem kleinen gallischen Dorf von den verwaltungstechnischen Problemen des römischen Imperiums? Ein großer Teil des Bürokratie-Hasses hat also mit Bürokratie gar nichts zu tun. Die So-einfach-ist-das-Männer stehen der Quantenphysik, Baseball und supranationalen europäischen Organisationen genauso feindlich gegenüber: Alles viel zu kompliziert und überfordernd.
 
Der Frust ist nachvollziehbar, die moderne Welt ist schließlich eine schlimme Zumutung. Besonders unschön wird die Sache dann, wenn den einen die Komplexität leichter gemacht wird als den anderen. Wenn der Reiche sich die Anwälte leisten kann, die sich auf komplizierte Regeln verstehen, der Arme aber nicht – um ein gutes Argument gegen Bürokratie einmal sehr vereinfacht wiederzugeben. Wirklicher Bürokratie-Hass wird daraus, wenn der So-einfach-ist-das-Mann kommt und sagt: „Schafft endlich die Bürokratie ab, so einfach ist das!“

Alle Folgen der Kolumne findest du hier.


Text: lars-weisbrod - Illustration: Daniela Rudolf

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