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Erinnerung zu verleihen

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Und dann steht da Johnny Depp. Einfach so, nachmittags im McDonald’s. Ich also nichts wie hin, und sag’ zu ihm: "Fluch der Karibik, super Film!" Da nimmt der sein Plastikmesser vom Tablett und fängt an, durch die Luft zu fechten. Und spießt damit meinen Burger auf!

Krasse Geschichte, hm?

Vermutlich kämen nur amerikanische Wissenschaftler auf die Idee, mit so einer Anekdote einen Aufsatz in einem Fachmagazin wie "Applied Cognitive Psychology" zu beginnen. Aber das Team von Forschern aus Dallas, Texas, tut das aus einem Grund: Die Geschichte von Johnny Depp und dem Plastikmesser erklärt das Prinzip des "memory borrowing". Und dabei, so lernt man bei der Lektüre, handelt es sich um ein Massenphänomen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Zumindest wenn es Fotos gibt, kann man davon ausgehen: Japp, ich war dabei. 

Mal angenommen, ein Kumpel hätte die Geschichte von Johnny Depp erzählt. Ein paar Monate später fiele nun in einer lockeren Kneipenrunde das Gesprächsthema zufällig auf Erlebnisse mit Prominenten. Angenommen, Freund A. erzählt, wie er mal neben Christoph Daum am Flughafen stand. Freundin B. sagt, sie habe ja mal Shaggy im P1 getroffen. Eine Geschichte führt zur nächsten.

Was die Wissenschaftler nun in ihrer Studie herausgefunden haben, ist folgendes: Mehr als die Hälfte der 18- bis 40-Jährigen würde in Erwägung ziehen, die Anekdote des Kumpels mit Johnny Depp zu erzählen. Und zwar so, als hätten sie sie selbst erlebt. Sie würden sich die Erinnerung "ausleihen".

Menschen mit einer guten Geschichte zu unterhalten, ist höchst befriedigend. Das weiß die Psychologie längst. Sie weiß ebenfalls, dass wir beim Erzählen von Anekdoten sowohl die Sprache als auch die Details variieren, je nachdem, wem wir sie gerade erzählen. Wir verzerren, über- oder untertreiben oder verschweigen Einzelheiten bewusst und unbewusst. Wir passen unsere Erlebnisse den Erwartungen unserer Zuhörer an.

So weit, so bekannt.

Dass allerdings 56,8 Prozent der Befragten Studenten schon mehrmals eine ganze Geschichte (oder ein Detail) von jemand Drittem geliehen haben – das hat die Forscher aus Dallas dann doch überrascht.

Das Ausleihen von Erinnerungen ist bequem - aber irgendwann glaubt unser Hirn die Lüge selbst.


Warum ist das "Ausleihen" von Erinnerungen so weit verbreitet? Die Forscher sagen: Weil witzige oder unterhaltsame Erfahrungen ein Gespräch flüssiger und spannender machen. Und weil es einfach leichter ist, eine Geschichte als eigene auszugeben, als erst umständlich den Kumpel C. einzuführen, "den ihr jetzt zwar nicht kennt, aber der mir letztes Jahr mal was total lustiges über Johnny Depp erzählt hat".

Die Studie belegt aber auch einen etwas unheimlichen Effekt: Das vorübergehende Borgen einer Geschichte führt dazu, dass sie dauerhaft als eigenes Erlebnis gespeichert wird. Ein Drittel der Befragten war sich zum Beispiel unsicher, ob ein länger zurückliegendes Erlebnis wirklich ihr eigenes oder doch ein ausgeliehenes war. Und 53 Prozent hatten schon mal jemand anderen dabei erwischt, wie er eine Geschichte als die eigene ausgab, die eigentlich SIE erlebt hatten. Oder das zumindest dachten, denn vielleicht irrten sie sich ja auch.

Den Streit um das "Eigentum an Erinnerungen" hat die Psychologie bisher vor allem bei Zwillingen untersucht: Je näher sich zwei Menschen sind (Zwillinge sind sich demnach am nächsten, gefolgt von Geschwistern und besten Freunden), desto wahrscheinlicher ist es, dass der eine ein Erlebnis des anderen als eigene Erinnerung abspeichert. (Bei unglücklichen Erlebnissen oder Fehlschlägen ist es interessanterweise umgekehrt – die schreibt man häufiger dem anderen zu, auch wenn sie die eigenen sind.)

Wir lernen daraus: "Memory borrowing" ist unter jungen Erwachsenen alltägliches und akzeptiertes Verhalten. Es geschieht ständig, es soll uns witziger und spannender machen. Klingt banal, könnte aber wichtig sein, zum Beispiel für psychologische Gutachten: Denn das Ausleihen von Erinnerungen kann, ohne dass man’s merkt, zu einer fixen Überzeugung werden. Man ist sich irgendwann sicher, dass man selbst Johnny Depp getroffen hat, weil man es so oft erzählt hat. So verändern sich mit den Menschen, die uns Dinge erzählen, auch unsere eigenen Lebensgeschichten. Wir fälschen unsere Biografie, ohne dass wir es merken.

Text: jan-stremmel - Foto: p.roid, gennadi/photocase.de

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