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Zwei Bücher (11): Vom Verlieben und Entlieben

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Verena Güntner, Jahrgang 1978, arbeitet seit 2007 als freischaffende Theaterschauspielerin. Im Herbst 2014 erschien ihr erster Roman "Es bringen" bei Kiepenheuer & Witsch. Vergangene Woche hat sie für uns ihren Sonntag fotografiert, jetzt wollten wir mit ihr aber auch noch über ihr wahres Fachgebiet sprechen: Romane.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

 

1. Die Neuerscheinung

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



jetzt.de: Was für eine Liebe fängt denn an in diesem Roman?
Verena Güntner: Das habe ich mich auch gefragt. Komischerweise denke ich dabei gar nicht an das Paar, Stella und Jason, sondern an den Stalker Mr. Pfister.

Das ging mir auch so. Stella und Jason leben in einer Vorstadtsiedlung in einem Haus mit Vorgarten und Briefkasten am Zaun. Stella ist Krankenschwester, Jason baut Häuser und ist oft nicht da. Die beiden haben eine Tochter, Ava. Und irgendwann drängt sich Mr. Pfister in ihr Leben. Er klingelt einfach an der Tür und möchte sich mit Stella unterhalten. Für mich entsteht in diesem Moment der Anknüpfungspunkt an den Titel. Denn genau wie zum Beginn einer neuen Liebe befindet sich auf einmal ein neuer, fremder Mensch mitten im eigenen Leben und wirbelt alles durcheinander.
Ich habe ein Problem mit dieser Lesart. Für mich ist Mr. Pfister nämlich gar keine eigenständige Figur, sondern ein Teil von Stella, den sie ausgelagert hat. Der Name klingt auch so als hätte ein Kind ihn sich ausgedacht, als könnte es diesen Mann eigentlich gar nicht geben. Und gegen Ende des Buches kam mir dann der Gedanke, dass Mr. Pfister die personifizierte Sehnsucht Stellas sein könnte.

Sehnsucht nach dem Leben, das sie früher mal geführt hat, als sie noch nicht mit ihrer Familie in der Vorstadt lebte?
Ja, oder einfach nach etwas Neuem. Und Mr. Pfister ist natürlich etwas Neues, ein Einbruch in die Gleichförmigkeit ihrer Tage, ihrer Abläufe, der Langeweile, in der sie sich bewegt. Merkwürdig fand ich dabei, dass Stella keine Worte für ihre spürbare Sehnsucht hat. Sie sagt nicht ein Mal: „Ich möchte mein Leben ändern.“ oder „ich bin unglücklich.“ Auch nicht in den Briefen, in denen sie sich einer Freundin anvertraut. Deshalb glaube ich, dass Hermann das Objekt von Stellas Sehnsucht in Mr. Pfister angelegt hat.

Mr. Pfister raucht Kette und trinkt sehr viel. Er vernachlässigt sich selbst, lebt in chaotischen Zuständen und man sieht es ihm an. Es heißt über ihn, er sei eigentlich ein schöner Mann, sieht aber so kränklich aus, dass von dieser Schönheit nicht mehr viel zu sehen ist. In den Briefen, die du erwähnt hast, klingt es manchmal so, als ob Stella früher so ein ähnliches Leben geführt hat, jedenfalls ein anderes als sie es jetzt führt.
Ja, und jetzt durchlebt sie diese immer gleichen Tagesabläufe, die sehr akribisch beschrieben werden. Stellas Langeweile wird sehr erlebbar, das ist nicht immer einfach zu lesen, da muss man durch. Und für diese Stumpfheit des Alltags gibt es überhaupt kein Ventil. Dadurch entsteht eine dumpfe Bedrohungssituation, weil man die ganze Zeit denkt: Das kann doch so nicht gut gehen. Tut es dann auch nicht.

Ist diese erlebte Langeweile beim Lesen ein Problem für den Roman?
Ja, ich habe lange Zeit nicht gewusst, warum ich dem noch folgen soll. Aber am Ende hat es für mich Sinn ergeben, gerade im Zusammenhang mit meiner Interpretation von Mr. Pfister als abgespaltener Teil Stellas. Er stellt in gewisser Weise die personifizierte Bedürftigkeit dar, und das stößt Stella ab. Mr. Pfister steht vermutlich für eine tiefe Angst: Wenn ich mich meinen Sehnsüchten hingebe, passiert etwas Schreckliches mit mir, dann endet alles im Chaos, in Dreck und Einsamkeit. Die Langeweile ist eine Folge der Verdrängung dieses Teils von sich – und die Katastrophe am Ende des Buches eine Folge davon, diesem Teil zu viel Raum in seinem Leben zuzugestehen.

Aber braucht es wirklich diese langwierigen Schilderungen der immer gleich verlaufenden Tage von Stella,  die sich psychologisch und räumlich nicht  bewegt? Oder muss man Hermann den Mut zur Langeweile als erzählerisch konsequent hoch anrechnen?
Ich weiß es nicht genau. Es ist einfach eine rasend traurige Geschichte. Der Ausblick, der am Ende bleibt, ist frustrierend. Und trotzdem saß ich nach dem Lesen da und war getroffen. Das hätte vermutlich nicht funktioniert, wenn Hermann in der Art, wie sie erzählt, nicht so konsequent gewesen wäre.

Judith Hermann: Aller Liebe Anfang
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2014
224 Seiten, 19,99 Euro
 

Auf der nächsten Seite spricht Verena über ihr Lieblingsbuch.


2. Das Lieblingsbuch

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



jetzt.de: Hast du dein Lieblingsbuch „Lichtjahre“ vor diesem Interview ein zweites Mal gelesen?
Verena Güntner: Ja. Das erste Mal habe ich das Buch vor acht oder neun Jahren gelesen. In einer Phase, in der ich gerade kaum Zeit zu lesen hatte, und dann hat mich dieser Roman voll erwischt. Ich habe ihn gelesen wie Durst einen trinken lässt und mich vor allem der Sprache Salters voll hingegeben. Jetzt, beim zweiten Lesen, war mir die Sprache oft zu überladen: jede Seite ein Merksatz. Außerdem herrscht so eine vergängliche Atmosphäre im Buch, mit der ich nicht mehr ganz so viel anfangen konnte, wie damals.
 
Was vergeht denn?
Es vergehen mehrere Lieben. Neue fangen an, aber schon in ihrem Aufkeimen hat man das Gefühl, sie werden wieder zu Ende gehen. Und es vergehen ganze Erzählstränge. Salter lässt sehr viel aus, macht große Sprünge. Oft fragt man sich, ob eine Person gestorben ist, und dann taucht sie plötzlich wieder auf. Einmal wird eine der beiden Töchter einfach hundert Seiten lang nicht mehr erwähnt.

Es gibt richtige Sackgassen.
Ja, genau. An den Stellen ist das Buch auch spannend. Das man so überhaupt erzählen kann! Salter macht oft nicht mal einen Absatz und man ist in einer komplett anderen Zeit, an einem anderen Ort.

Die Hauptfiguren sind Viri und Nedra. Er ist zu Beginn Anfang 30 und sie Ende 20, gemeinsam durchleben sie ungefähr 15 Jahre Ehe. Ihre besten Jahre, wenn man so will. Dann werden sie geschieden, obwohl es ihnen sehr gut geht. Sie sind reich, haben zwei wunderbare Töchter. Woran scheitert diese Beziehung?
Es geht ihnen irgendwie zu gut. Nedra zum Beispiel springt in ihren Affären immer dann ab, wenn sich nur ansatzweise Harmonie einstellt. Und die Ehe verläuft sehr harmonisch. Salter beschreibt die Beziehung der beiden als brüderlich. Das Fundament ist da, es gibt die Kinder und Viri und Nedra haben bis zuletzt großen Respekt voreinander. Sie driften nie in den Hass ab, weil sie unzufrieden sind, weil sie Affären führen und die Leidenschaft nicht mehr da ist. Ob diese Beziehung mal richtig leidenschaftlich war, kann man als Leser nicht zurückverfolgen, Viri und Nedra scheinen es auch nicht zu wissen und das könnte das Problem der beiden sein. Es ist genug da, aber eben auch nicht mehr. Keine großen Höhen oder Tiefen.

Ist es deshalb nicht auch ein Buch über das Weitermachen nach einer Trennung? Über das Weitermachen mit einer seelischen Versehrtheit, die man ab einem gewissen Alter mit sich herumträgt, weil man bereits ein paar Wunden im Leben davongetragen hat?
Dass alles endet, das ist die Klammer dieses Buches – und dieser Stimmung entkommt man nicht, während man es liest, das gefällt mir so gut daran. „Lichtjahre“ beleuchtet etwas, was wir oft ausblenden: Nämlich auch die Vergänglichkeit des Weitermachens.

Fandst du das Buch auch erst nach der Trennung von Viri und Nedra richtig interessant?
Ja, komisch oder? Das Luxusleben, das sie führen, ist so fürchterlich ermüdend.

Auch für den Leser. Passt das hier für dich?
Wie gesagt, ich habe zwei Leseerfahrungen. Beim ersten Mal hatte ich damit überhaupt kein Problem, man muss sich auf die Sprache, die Sprünge und auch auf das ausschweifende Erzählen einlassen, sonst legt man das Buch irgendwann weg. Aber ich finde, am Ende wird man für das Weiterlesen belohnt wie bei Judith Hermann.

Warum?
Man kann zwar behaupten, die Erzählung ist furchtbar aufgeplustert und aufgebläht, es passiert doch gar nichts im Leben dieses Paares - beziehungsweise immer das gleiche: die gleichen Begegnungen, die gleichen Gespräche. Aber unbemerkt wird man immer weiter hineingeschraubt in die Geschichte. Fließt so mit im Erzählstrom und landet schließlich ganz bei sich.

James Salter: Lichtjahre
Berlin Verlag Taschenbuch, Berlin 2014
400 Seiten, 9,99 Euro
 
 



Text: dorian-steinhoff - Foto: Stefan Klüte

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