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Zwei Bücher, ein Autor

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Nora Gomringer, geboren 1980, ist Schweizerin und Deutsche. Sie lebte u.a. vier Jahre in den USA, wo sie enge Kontakte zur Performance-Poesie-Szene pflegte, und war Gast zahlreicher Poesiefestivals im In- und Ausland (zuletzt Mexiko, Buenos Aires, Zürich). Nora Gomringer veröffentlichte mehrere Gedichtbände bei Voland & Quist, außerdem erschienen ihre Texte in Anthologien, Schulbüchern und Zeitschriften, einzelne Lyrikbände sind auch in verschiedene Sprachen übertragen worden. Seit 2010 leitet sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg im Auftrag des Freistaates Bayern als Direktorin. Nach zahlreichen Auszeichnungen für ihr Werk, wurde ihr im Herbst 2011 der Kulturpreis Deutsche Sprache  „Jacob Grimm“ zugesprochen. 2012 folgte der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik. Im Frühjahr 2013 erschien ihr illustrierter Lyrikband mit CD »Monster Poems«, kurze Zeit später erhielt sie den Poesiepreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI e.V. und den August-Graf-von-Platen-Preis für Literatur. 2014 ist sie offizielle Stadtschreiberin von Helsinki und wird in Erlangen mit dem Otto-Grau-Preis für Kunst geehrt.

Teil 1: Die Neuerscheinung

Stephen King: Joyland

jetzt.de: Ich war überrascht, dass du ein Buch von Stephen King für dieses Gespräch ausgewählt hast.
Nora Gomringer: Stephen King ist für mich einer der verblüffendsten Autoren. Ich will gar keine Kategorisierung vornehmen, weil so viel Verschiedenes von ihm vorliegt, dass man den Verdacht bekommen könnte, die Thriller- und Horrorthematik sind nur zwei weitere Spielarten seines Könnens, die er eben auch gut beherrscht. Mir hat immer gut gefallen, dass er in jedem neuen Buch mit überraschender Tiefe Situationen erschafft und auf Personen blickt. Ich glaube, die Elemente des Übersinnlichen und Übernatürlichen hängen bei ihm vor allem damit zusammen, dass er sich gut wundern kann über Welt und Menschen.

Findest du das auch so in "Joyland" wieder?
Ja, das Buch kommt mit ganz wenig storyformenden, übersinnlichen Elementen aus. Dafür findet man sehr gute Personenbeschreibungen. Außerdem ist Stephen King einer der wenigen männlichen Autoren, der Fraueninnenleben gut ausfüllt.

Ich fand das alles unglaublich amerikanisch.
Ja, Stephen King wird immer mehr zum Vertreter des "Americana", zum großen Darsteller kleiner amerikanischer Verhältnisse.

Auch in diesem Roman?
Wir haben es in "Joyland" mit einem jungen Collagestudenten zu tun, Devin Jones, dessen Herz gebrochen wurde. Er heuert für einen Sommer in einem Vergnügungspark an. Er trifft natürlich verschiedene Menschen, mit denen er arbeitet, manche sympathisch, manche unsympathisch. Er lernt aber auch einen kleinen Jungen, Mike, und seine Mutter, Annie, kennen. Sie ist offensichtlich alleinerziehend und der Kleine ist schwer krank und hat die Gabe des Sehens. Irgendwie kann er bestimmte Dinge voraussehen und bis zu einem gewissen Grad Gedanken lesen. Und in dem Vergnügungspark gibt es schon ganz lange eine Spukgeschichte. Irgendwie ist im "haunted house" eine junge Frau umgebracht worden und ihr Geist schwebt noch immer in dieser Geisterbahn. Es ist eine mysteriöse Kriminalgeschichte, die auch Devin in Gefahr bringt. Die meiste Zeit erlebt der Leser aber einen ausgedehnten und ruhigen Sommer. Das ist das Schönste.

Und all das ist aus der Perspektive von Devin Jones als gealtertem Mann erzählt. Für mich entsteht keine glaubhafte Dringlichkeit dafür, dass dieser ungefähr sechzigjährige Erzähler diese Geschehnisse schildert.
Man muss dabei beachten: Ein Sechzigjähriger ist in den USA schon fast tot. Mit sechzig steht man, im Gegensatz zu Europa, zwischen den Leben. Es ist also der typische Zeitpunkt für die Retrospektive. Und das wiederum ist typisch für den Americana und Stephen King. Er ist nämlich mittlerweile auch so ein Opa, der nur noch schöne Geschichten erzählen will. Und dann hängt er sie eben irgendwo dran auf.

Was du schöne Geschichte nennst, ist vor allem unglaublich prüde.
Ja, aber das hat auch mit der Zeit zu tun, es spielt irgendwann in den Siebzigern. Das hallt Stephen King als Kindheitsecho nach. Und natürlich sind diese Geschichten alle total prüde, sie sind aufgehoben in dieser Prüderie, sie kommen aus ihr heraus und bleiben auch in ihr drin, es ist die Atmosphäre, die sie atmen.

Und das gilt nicht nur für den Inhalt. Sie sind sprachlich und formal gleich prüde, es gibt nicht ein einziges Wagnis.
Es gibt keinen Firlefanz, das stimmt, und ich finde das mal wieder ganz entspannend. Das regt mich sonst auch immer an der Deutschen Prosa sehr auf. Ich verbinde sprachliches Wagnis mit Lyrik, in der Prosa nervt mich das meistens. Ich habe mich mit diesem Buch auch nicht aus meiner Komfortzone bewegt, das kann man mir vorwerfen.

Ja, genau, das tut man nicht, man bleibt die ganze Zeit in der Komfortzone. Ich finde, dieses Buch ist im schlimmsten Sinne "well made".
Das stimmt, aber mich erstaunt Stephen King trotzdem immer wieder. Er sagt: Ich mache hier kein Erdbeben, keinen Vulkanausbruch, aber ich erzähle eine schöne Geschichte. Diese Harmlosigkeit finde ich faszinierend.

Stephen King: Joyland, Heyne Verlag, München 2013, 352 Seiten, 19,90 Euro.

Auf der nächsten Seite: Nora Gomringer über ihr Lieblingsbuch, "The Basketball Diaries" von Jim Carroll - und was das mit "Mad Men" zu tun hat.

Teil 2: Das Lieblingsbuch

Jim Carroll: The Basketball Diaries

Ich vermute einen persönlichen Bezug, der zu deiner Wahl dieses Buches geführt hat, nämlich den zu New York, wo du einige Zeit gelebt hast.
Ja, aber ich habe jetzt beim zweiten Lesen gedacht: Moment mal, das spielt ja alles vor dem gleichen zeitlichen Tableau wie die Fernsehserie "Mad Men" und größere Gegensätze in der Darstellung kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Auch zu Stephen King nicht übrigens. Die Prüderie ist hier zwar ebenso Atmosphäre, aber hier ist einer, der dagegen schwimmt wie ein Spermium in einer prüden Gebärmutter und alles anbounct, was geht. Ich wollte mal wieder ein Buch lesen über einen ganz wilden Charakter, jetzt denke ich, eigentlich ist er ein ganz erwachsener Wildspieler.

Ja, das ist das Erstaunliche. Dieses Buch basiert auf Aufzeichnungen, die Jim Carroll zwischen seinem zwölften und sechzehnten Lebensjahr gemacht hat.
Ich habe zwischendurch gedacht: So einen Jungen will ich persönlich gar nicht kennenlernen. Wenn ich es lese, finde ich es lustig und denke: Ach, der ist ja wie ein wilder Sancho Panza oder ein wilder Don Quijote, der mit seinen Kumpels rumrennt und mit einer Nadel alles in seinen Körper reindrückt, was geht. Das hat zu meinem eigenen Leben eine Entfernung wie drei Mal zum Mond. Und insgeheim hoffe ich, dass er das alles gar nicht wirklich erlebt hat, dass er ein Angeber ist, dann hätte ich das Gefühl, es ist nicht alles kaputt.

Das Entscheidende ist auch hier wieder die Form, all das wird in kürzesten Tagebuchnotizen erzählt.
Ich habe das Gefühl, er hat auch gar nicht den Atem für länger. Weder die erzählerische Kraft, noch die Lust. So wie er sich selbst schildert, ist er die große Wurstigkeit in Person, nur manche Dinge sind wichtig: In dem Moment diese Frau, in dem Moment diese Droge und dann noch in dem Moment dieses Spiel. Diese drei markanten Dinge im Leben zwischen zwölf und sechzehn scheinen ihn zu interessieren.

Vor diesem Buch hat Carroll vor allem Lyrik geschrieben und veröffentlich. Hast du einen Widerklang davon in seiner Prosa gefunden?
Ja, vielleicht in dieser Roughness, in dieser Attitüde: "Ich will nicht gefallen!" Das kann einem auch beim Lesen der Gedichte auf den Keks gehen, weil es nicht gelingt. Er hat sehr schöne, sehr kluge Beobachtungen, die ihn für zärtlich erklären und zärtlich findet er furchtbar.

Das gilt für sein ganzes Werk.
Ja, um in diesem Spermium-Bild zu bleiben: Jim Carroll ist ein Gegen-den-Strom-Schwimmer und zwar wie bekloppt. Man möchte ihm zurufen: Zur Selbsterhaltung, zum Selbstschutz, sei doch mal ein bisschen konformer! Aber Jim Carroll in konform gibt es nicht.

Aber, um weiter im Bild zu bleiben, ein Spermium, das auf dem Weg zu einer Eizelle ist, schwimmt vielleicht gegen einen Strom an, aber es hat ja ein Ziel. Und Carroll strebt der absoluten Leere, der totalen Selbstzerstörung zu.
Vielleicht nehmen wir auch eine Kaulquappe, die hektische und ausladende Schwimmbewegungen macht, die wild zappelt.

Wir haben das Buch in der Originalausgabe gelesen, weil es auf Deutsch momentan nicht vorliegt. Würdest du dem Verlag raten, es schnell wieder aufzulegen? Oder allen, die jetzt Lust haben die Diaries zu lesen, empfehlen, es unbedingt und auf jeden Fall im Original zu lesen?
Wer ein Gefühl bekommen möchte für diesen brodelnden und damals noch sehr spannenden Kessel New York, der darf sich jede Staffel "Mad Men" angucken, sollte aber, um die Version "Don Draper's kids gone bad!" nicht zu verpassen, die Diaries unbedingt im Original lesen. Man kann, wenn man dieses Buch gelesen hat, begreifen, was zum "March on Washington", was zur Rede "I have a Dream" geführt hat. Die Diaries sind die Untermusik davon. Das ist ein historisches Buch!

Jim Carroll: The Baskeball Diaries, Penguin Books 1987, 224 Seiten, 10,90 Euro.


Text: dorian-steinhoff - Foto: Cella Seven

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