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Zwei Bücher, Folge 1: Der Mann im Erdloch

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Finn-Ole Heinrich, 31, studierte in Hannover Filmregie. Als Autor debütierte er mit dem Erzählband „Die Taschen voll Wasser“ (2005). Ihm folgten sein Romandebüt „Räuberhände“ (2007), der aktuell Abiturprüfungsthema an allen Hamburger Gymnasien ist, und sein zweiter Erzählband „Gestern war auch schon ein Tag“ (2009). Er erhielt zahlreiche Arbeitsstipendien und gewann verschiedene Literaturpreise, zuletzt den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Kinderbuch für „Frerk, du Zwerg!“ (2011). Diesen Sommer erschien im Hanser Verlag sein neues Kinderbuch „Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt“. Finn-Ole Heinrich lebt als freier Autor in Hamburg.

Teil 1: Die Neuerscheinung 

Roman Simic: Von all den unglaublichen Dingen  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



jetzt.de: Finn, „Von all den unglaublichen Dingen“ ist ein Erzählband. Liest du gerne Erzählungen?
Finn-Ole Heinrich: Ja, ich mag das Format. Im besten Falle bietet es einem die Möglichkeit, auf sehr kleinem Raum und in kurzer Zeit tief in Erzählwelten einzutauchen. Dass sich Erzählbände in Deutschland meistens schlecht verkaufen, wundert mich immer wieder. Denn eigentlich gibt es ja eine Tendenz zu immer kürzeren Texten, viele Zeitungen bestehen größtenteils nur noch aus Überschriften und ein bisschen Text darunter. Nur in der Belletristik schreien die Leute immer noch nach Romanen, und dann sollen es möglichst so 600-Seiten-Klopper oder Dreiteiler oder Siebenteiler sein.

Liest du Erzählungen anders als Romane?
So ein Erzählband erfordert einen anderen Leserhythmus. Man muss zwischendurch Pausen machen, es ist schwer, eine Erzählung zu unterbrechen und dann wieder rein zu finden. Da braucht man eine bestimmte Art der Konzentration. Vielleicht ist das die Erklärung dafür, dass Erzählungen so schwer an den Mann zu bringen sind.  

Roman Simic ist Kroate. Ich habe mit diesem Buch das erste Mal Literatur vom Balkan gelesen und es kam mir so vor, als wären alle Figuren vom Bürgerkrieg seelisch amputiert, als schwinge in jedem Satz dieser Erzählungen diese Katastrophe mit. Ging Dir das auch so?
Eher nicht. Ich war eigentlich genau deshalb gespannt darauf, dieses Buch zu lesen, weil ich dachte, das ist bestimmt ein großes Thema. Aber es kam mir dann ganz oft nur wie eine Kulisse vor, als ob es auf die Figuren gar keine so große Auswirkung hat, sondern, böse gesagt, wie eine Tracht funktioniert, die man sich überzieht. Vielleicht war meine Erwartung aber auch falsch. Man muss ja weiterleben nach so einer Katastrophe und das tun die Figuren auch. Die Vergangenheit, der Krieg bekommt dadurch im Buch eher eine Beiläufigkeit.

In den meisten Erzählungen spielt die Geburt eines Kindes oder eine junge Elternschaft eine Rolle. Wie hat dir die Darstellung davon gefallen?
Erstaunlich nah dran an dem, wie junge Eltern wahrscheinlich wirklich denken und ticken, wobei ich dafür kein Spezialist bin. Sag du mal was Kluges dazu.
Der Blick eines männlichen Erzählers auf eine Frau, die Mutter wird, und auf die Auswirkungen, die das hat, insbesondere auch auf eine Paarbeziehung, fand ich sehr empathisch und intensiv. Es sind mit die besten Passagen im ganzen Buch.
Ja, das stimmt.

Im Gegensatz zu dir schreibt Roman Simic nicht besonders szenisch, es gibt nur wenige Stellen, an denen er den Leser mitten in das Geschehen hineinführt. Er berichtet eher Erinnerungen, eine Geschichte ist auch ein langer Brief. Wie findest Du dieses Erzählkonzept?
Das hat mich gestört, es macht das Erzählen manchmal zäh. Mir haben in dem Buch auch zu viele Leute geschrieben. Ständig schreibt jemand einen Brief, dichtet oder schreibt, aus welcher Motivation auch immer, irgendwelche Beziehungssachen auf. Simic kann schreiben, das ist nicht die Frage. Es gibt auch schöne und überraschende Bilder in den Texten, aber es hat mich nicht gekriegt. Außerdem hat mich gestört, dass sich die Erzähler ganz oft dazwischenschalten, indem sie zum Beispiel sagen: „Hab ich das schon erzählt?“ Den Sinn solcher Sätze verstehe ich nicht, es verlangsamt das Erzählen nur unnötig.

Wie hast Du das Buch gelesen: am Stück, vor dem Schlafengehen, im Zug? Für welche Situation eignet es sich besonders gut?
Ich habe das Buch überall gelesen. Im Bett, im Zug und in der U-Bahn. Es waren nicht die günstigsten Umstände. Es ist besser, so ein Buch konzentriert Erzählung für Erzählung zu lesen, und nicht drei Seiten hier, zwei Seiten da. Ich würde empfehlen, mit genügend Zeit zu lesen und nach jeder Erzählung vielleicht einen Tag vergehen zu lassen, um sich wirklich auf diese kleinen Welten einlassen zu können.  

Welche Erzählung mochtest Du am liebsten?
„Gegenstände, die sinken“. Der Text kommt sprachlich und thematisch am nächsten an das, was mich interessiert. Der Text  ist bissig, poetisch und meiner Meinung nach der gelungenste im Buch.

Und insgesamt, Leseempfehlung?
Ich bin diesem Buch sehr gespannt entgegengetreten, aber einem Freund würde ich es leider nicht uneingeschränkt empfehlen.

Sondern?
Ich würde ihm sagen: Lies mal „Gegenstände, die sinken“. Falls dir das gefällt, kannst du ja weiterblättern.

Roman Simic: Von all den unglaublichen Dingen Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2013 176 Seiten, 18,90 Euro

Auf der nächsten Seite: Finn-Ole erklärt, was ihn immer wieder an J. M. Coetzee fasziniert.


Teil 2: Das Lieblingsbuch

J. M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

 

Dieses Buch zu lesen, war eine sehr ambivalente Erfahrung für mich. Zum einen fand ich das, was erzählt wird, wahnsinnig anstrengend, fast schon deprimierend, und zum anderen ist es so gut geschrieben und gemacht, dass ich nicht aufhören konnte. „Leben und Zeit des Micheal K.“ ist eines deiner Lieblingsbücher. Warum?
Finn-Ole Heinrich: Es fasziniert mich, weil Coetzee es schafft, große und existenzielle Fragen an einem kleinen Beispiel unglaublich bildhaft und präzise durchzuexerzieren.

Fragen wonach?
Was Menschsein ausmacht, wie man seinen Platz in der Welt findet, was einen vielleicht glücklich macht. Was die Dinge sind, die das Leben lebenswert machen.

Was ist das Besondere an der Verhandlung dieser Fragen in „Leben und Zeit des Micheal K.“?
Man neigt oft dazu, so was an großen Geschichten, klugen Köpfen und grandiosen Ideen aufzuhängen. Aber Coetzee schafft es, diese großen Themen an der Geschichte eines geistig behinderten Mannes entlang zu erzählen, der nur rumgestoßen wird in der Welt, der sich nur nach einem kleinen Flecken Erde sehnt, wo er nicht drangsaliert wird.

Würden wir die Handlung noch weiter nacherzählen, hätte wahrscheinlich niemand Lust, das Buch zu lesen. Warum entsteht trotzdem so was wie Lesevergnügen?
Das Ganze ist handwerklich und künstlerisch unfassbar gut gemacht. Ich verstehe immer noch nicht, wie man es schaffen kann, interessant darüber zu schreiben, wie jemand jahrelang in einer Erdmulde lebt, Kürbisse anbaut und darauf wartet, dass sie reif werden. Ein langweiligeres Szenario kann man sich kaum vorstellen. Bei Coetzee ist es spannend.

Coetzee ist schon ein Lieblingsautor von dir, oder? Hast Du noch mehr von ihm gelesen?
Ja, mit „Leben und Zeit des Micheal K.“ in einer Liga spielen für mich auf jeden Fall auch „Warten auf die Barbaren“ und „Schande“. Außerdem habe ich „Der Junge“ und „Die jungen Jahre“ gelesen, die ich auch gut finde, aber nicht so herausragend wie die drei Erstgenannten. 

Es gibt auch in der Deutschsprachigen Literatur einen Roman mit einem Szenario, das dem von „Leben und Zeit des Michael K.“ sehr nahe kommt: Marlen Haushofers „Die Wand“. Findest Du das auch so gut?
Ja, das ist auch ein fantastisches Buch und beide lassen sich tatsächlich gut miteinander vergleichen, auch vom Niveau her. Beides sind unglaublich gute Menschheitserzählungen. Eigentlich hätte ich auch „Die Wand“ als Lieblingsbuch für diese Kolumne nennen können.

J.M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K. Aus dem Englischen von Wulf Teichmann Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2003 224 Seiten, 8,90 Euro   

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