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Warum wir Alkohol brauchen

Illustration: Federico Delfrati

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Die Alkolumne handelt vom Trinken. Von den schönen und schlechten Seiten dieses Zeitvertreibs und den kleinen Beobachtungen und Phänomenen an der Bar. Aber egal, worum es grade geht, lieber Leser – bitte immer dran denken: Ist ungesund und kann gefährlich sein, dieser Alkohol.

In vino veritas, behauptete irgendein Grieche. Und weil der Mensch nunmal dazu neigt, im Suff Liebeserklärungen und Faustschläge zu verteilen, die er später bereut, findet man bis heute, der Grieche gehöre zitiert. Womit er Recht hatte: Alkohol enthemmt. „Erstmal was trinken!“ scheint die Lösung für Blockaden aller Art zu sein. Wenn etwas wehtut am Herzen. Wenn wir auf einer Party in der Ecke rumstehen oder mit unserer verkorksten Sippe Omas Geburtstag zelebrieren müssen. Wenn wir unser Date beeindrucken oder die richtigen Worte finden wollen, um jemanden aus unserem Leben zu befördern.

Alkohol lässt uns tanzen wie John Travolta, flirten wie ein junger Gott und mit jedem Resting-bitch-face ins Gespräch kommen. Gut, manchmal spucken wir dabei jemandem aus Versehen ins Dekolleté, aber das kommt nicht so häufig vor, als dass man das nicht verschmerzen könnte. Denn der Alkohol lässt uns zu entspannteren Menschen werden. Zu Menschen, die sich was trauen. Und genau hier liegt der Irrtum des Griechen begraben: Alkohol holt nicht die Wahrheit aus uns heraus. Er kaschiert sie. Wir trinken, um uns ihr nicht stellen zu müssen.

Denn die Wahrheit ist, dass wir ohne Alkohol nur allzu oft schüchtern, ungelenk und bedürftig sind. Dass wir im Grunde unseres Herzens Familienfeiern hassen oder nicht in der Lage sind, ausgelassen zu sein. Dass uns fremde Menschen überfordern. Dass wir etwas brauchen, das uns abends nach der Arbeit runterbringt.

 

In Wirklichkeit haben die Meisten von uns längst ein Alkoholproblem.

Die Wenigsten von uns würden sich als Alkoholiker bezeichnen – weil wir ja auch ohne könnten. Doch wer mal bewusst versucht hat, aufs Trinken zu verzichten, weiß, wie sehr er darauf angewiesen ist. In Wirklichkeit haben die Meisten von uns längst ein Alkoholproblem. Wer will sich schon freiwillig die Wahrheit über sich und die Welt in HD geben, wenn er Weichzeichner haben kann?

Seit ich fünfzehn bin, habe ich in sozial anerkannter Manier alles weggesoffen, was mir unangenehm war. Alle machten es so, und ich kannte es nicht anders. Erst jetzt, weitere fünfzehn Jahre später, habe ich kapiert: Die Wahrheit ist gar nicht mal so übel. Na gut, sie ist vielleicht der letzte Dreck, und wenn du – wie Neo in Matrix – die rote Pille statt der blauen schluckst, wird dir das erst recht bewusst. Aber es ist nunmal die Wahrheit, und sich vor ihr zu verstecken, ist ähnlich sinnvoll, wie sich in Mutters Bauch zurückzuwünschen. Es erscheint wohlig, es erscheint heilsam, aber es ändert einfach nichts an den Tatsachen.

Seit ein paar Wochen sitze ich auf dem Trockenen, weil ich mir die Tatsachen angucken wollte. Das Ergebnis war zunächst zermürbend: Beim Date mit diesem Adonis gab ich kein gutes Bild ab. Ich rutschte auf dem Stuhl hin und her und wusste nicht, was ich sagen sollte. Beim Treffen mit meinen Freundinnen pinkelten sich die anderen vor Lachen fast in die Hose. Nur ich verstand den Witz nicht und verließ die Bar als Erste, weil ich so hundemüde war. Es folgten: langweilige Partys, stockende Gespräche, verhunzte Abende. Was für ein mieser Kontrast zu meinem bisher in den prächtigsten Farben schillernden Leben! Wo war meine Eloquenz? Wo mein Witz? Wo meine Coolness? Das alles nur, weil mir das Schmiermittel Alkohol abhanden gekommen war. Es war durch und durch – verzeih den Wortwitz – ernüchternd.

Ich bin ehrlicher mit mir geworden. Und handlungsfähiger

Kein Wunder also, dass ich mich zwischendurch doch noch zuschüttete, als ich dringend meine Coolness zurück brauchte, um die Nachlese mit meinem frisch getrennten Ex durchzustehen. Oder als ich spontan mit einem Text von mir auf der Bühne landete. Mit meiner kleinen Abstinenz-Erfahrung im Rücken spürte ich meine Überforderung in diesen Situationen gleich zehn Mal so sehr.

Die gute Nachricht ist: Ich blieb nicht unsicher, mein Leben blieb nicht trist. Nach und nach stellte sich nämlich etwas völlig Neues ein –  ein Gefühl für mich und das, was ich brauche. Ich bin ehrlicher mit mir geworden. Und handlungsfähiger. Wenn mich jetzt ein Mensch langweilt, dann suche ich mir jemand anderen, statt so lange zu trinken, bis ich ihn witzig finde. Wenn ich die Welt hasse, dann schimpfe und heule ich, bis der Hass verschwindet, statt ihn wegzunebeln. Und wenn ich etwas zu feiern habe, dann mache ich das so leise oder laut, wie mir grade zumute ist, statt Exzess zu evozieren, wo keiner ist.

Sie sind seltener geworden, diese magischen Abende, die durchgemachten Nächte, die Knutschereien mit Fremden. Aber wenn ich sie jetzt erlebe, dann in hundertfacher Intensität. Ohne Weichzeichner, ohne Schwindel, ohne Rausch. Und das Beste: Ich muss sie mir nicht erst schön trinken. Sie sind es ganz von allein.

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