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Jeder Mensch hat einen Suff-Charakter

Illustration: Federico Delfrati

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Ich habe diese eine Freundin, die von Alkohol nicht lustig und aktiv wird, sondern sehr müde. Ich habe auch diesen einen Freund, der sehr anhänglich wird, wenn er betrunken ist. Den Freund, der nach drei bis vier Bier gemein wird. Die Freundin, die mit jedem Promille alberner wird. Und die, bei der man einfach nicht merkt, dass sie überhaupt was getrunken hat. 

Alkohol verändert die Menschen. Manchmal ist diese Veränderung lustig und unterhaltsam, manchmal ist sie fies. Ein Mauerblümchen kann nach zwei Longdrinks auf einmal zur offensiven Flirtmaschine werden. Wer sonst viel schweigt, plärrt plötzlich witzige Anekdoten raus. Der sanftmütigste Geduldesel wiederum kann zum unberechenbaren Bullen werden.

Aber: Wer den sanftmütigen Geduldesel gut kennt, für den ist es zumindest nicht unberechenbar, dass er sich nach ein paar Drinks in den unberechenbaren Bullen verwandeln wird. Denn die meisten Menschen sind unter Alkoholeinfluss nicht jedes Mal anders, sondern haben einen wiederkehrenden Trunkenheits-Typ. Einen individuellen Suff-Charakter, der sich mit steigendem Promillewert vor ihren nüchternen Charakter drängt.

Das Gute daran ist, dass man sich auf diesen Suff-Charakter in den meisten Fällen einstellen kann. Man weiß ja, was einen erwartet. Wenn ich zum Beispiel mit der Freundin, die vom Alkohol müde wird, etwas unternehmen will, plane ich den Abend so, dass wir nicht allzu lange vorglühen. Sonst schaffen wir es nämlich nicht mehr vor die Tür. Und bei dem Freund mit dem anhänglichen Suff-Charakter erschrecke ich längst nicht mehr, wenn er mich später am Abend dauernd umarmen möchte – und kann das Phänomen anderen erklären, die irritiert schauen, wenn er sie plötzlich auf die Wange küsst. 

Weil man weiß, welcher Suff-Charakter einen bei welchem Menschen erwartet, kann man sich nicht nur darauf einstellen, sondern diese Tatsache manchmal sogar für sich nutzen. Ist man selbst irgendwie nicht gut drauf und würde es niemals schaffen, noch auszugehen, verabredet man sich einfach mit der Freundin, die immer in totalen Aktionismus verfällt, wenn sie beschwipst ist. Und um die Stimmung auf der WG-Party muss man sich keine Sorgen machen, wenn der Typ kommt, der immer als erster tanzt, wenn man ihm ein bisschen Bier gibt.

Obwohl wir alle einen Suff-Charakter haben,  wollen die wenigsten von uns ihn wahrhaben 

Wenn man weiß, was einen erwartet, kann das aber leider auch dazu führen, dass man einfach keine Lust hat, diesen einen Freund zu treffen, dessen Suff-Charakter anstrengend diskutierfreudig, eher sogar streitlustig ist. Man ahnt halt schon: Ist er anfangs noch ein netter Gesprächspartner, wird er im Laufe des Weins anfangen, einen dauernd zu unterbrechen oder vehement und wütend zu widersprechen, wo er nüchtern sachlich argumentiert oder sogar zugestimmt hätte. Und dann wird man sich den nüchternen Charakter zurückwünschen, kann den aber frühesten beim nächsten Treffen wiederkriegen. Was macht man also? Diesem Menschen vorab den Alkohol verbieten? Ihn einfach nicht mehr treffen? Oder nur noch zu Gelegenheiten, zu denen man nicht trinkt? Also nachmittags zum Kaffee oder wenn er gerade Antibiotika nehmen muss? 

Jaja, klar, jetzt sagt wieder jemand: einfach ansprechen. Drüber reden. Aber wer schon mal jemanden mit einer Aussage à la „Immer wenn du betrunken bist, wirst du…“ konfrontiert hat, weiß, dass das häufig nicht gut ausgeht – vor allem dann nicht, wenn auf das „wirst du“ keine überwiegend positive Beschreibung folgt. Denn obwohl wir alle einen bestimmten Suff-Charakter haben, den alle unsere Freunde kennen, kennen die wenigsten von uns den eigenen. Oder noch eher: wollen die wenigsten von uns ihn wahrhaben. Man will nicht anders sein, wenn man Alkohol getrunken hat. Das fühlt sich nämlich nach Kontrollverlust an. Wenn wir trinken, wollen wir bitteschön unser Bewusstsein erweitern, aber nicht unsere Persönlichkeit verändern. Darum darf man die Suff-Charaktere der eigenen Freunde registrieren und orchestrieren, aber sollte sie besser nicht allzu oft thematisieren. 

Die ganze schöne Suff-Charakter-Theorie hat allerdings einen logischen Fehler: Wenn man sich von vornherein auf den Suff-Charakter einer Person einstellt, rechnet man dabei aus den eben genannten Gründen fast nie mit ein, dass man sich ja auch selbst verändert, wenn man trinkt. Dass die Abende mit dem einen Freund immer in streitähnlichen Diskussionen enden, liegt am Ende vielleicht gar nicht an ihm, sondern an einem selbst. Oder sogar nur an dieser ganz bestimmten Kombination aus zwei Menschen, die eine total toxische Suff-Charakter-Mischung ergibt. Aber die ist, glaube ich, ein Thema für eine eigene Alkolumne. 

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