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An der Basis gegen Amazon

Foto: Paul Lovis Wagner

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Das Erste, was Christian seltsam vorkam, waren die Hinweise überall. Vor allem auf dem Klo. Als er das erste Mal an seinem neuen Arbeitsplatz, im Amazon-Werk in Bad Hersfeld, auf die Toilette ging, fielen ihm gleich mehrere Schilder auf. Eins davon mit einer Grafik, die verbietet, sich auf die Toilette zu stellen. Ein anderes fordert den Betrachter auf, eine „angemessene Menge ­Klopapier“ zu benutzen. Das Ganze in Strichmännchen-Optik, in jedem Amazon-Lager der Welt ­verständlich.

Damals fand Christian das lustig. Jetzt, sieben Jahre später, weiß er: Das ist bitterer Ernst. Die Schilder sind vielleicht der plakativste Teil des ­Systems Amazon, ein strenger Apparat aus Vorschriften und Regeln. Wer die nicht ernst nimmt, kann ­seinen Job verlieren. Christian, der heute 39 ist, hat sich davon nicht einschüchtern lassen oder seinen Job einfach hingeschmissen. „Ich wusste von Anfang an, dass ich nur hier an der Basis, als Arbeiter, was verändern kann“, sagt er heute. Und mit dem ersten Tag nahm er sich vor: „Dieses System wird mich nicht kleinkriegen.“

Heute ist Christian einer, dem die Mitarbeiter vertrauen und den die Chefs fürchten. Weil er auf Betriebsversammlungen ruhig, aber bestimmt so lange unangenehme Fragen stellt, bis die Veranstaltung abgebrochen wird. Weil er in der Eingangshalle Flyer verteilt und zum Streik aufruft. Weil Amazon in Bad Hersfeld schon mal für kurze Zeit seine Aufträge an andere Standorte abgeben musste, weil er es schaffte, mehr als 500 der 2000 Arbeiter zum Streiken zu bewegen.

Sein Kampfgeist entwickelte sich erst mit der Zeit. Vor sieben Jahren fing Christian als Weihnachtsaushilfe bei Amazon an. Davor hatte er für eine Zeitarbeitsfirma beim Dänischen Bettenlager ­Möbelteile von bis zu 50 Kilogramm von A nach B geschleppt. Und davor sein Politik- und BWL-Studium abgebrochen. Eine prekäre ­Situation, in der die Aussicht auf eine Festanstellung erst mal paradiesisch ­wirkte. Und ein Unternehmen wie Amazon, mit seiner fortschrittlichen ­Ausstrahlung und dem 15-Kilo-Tragelimit umso attraktiver. Doch die ­Ernüchterung kam vor der Festanstellung. „Mir war schnell klar: Selberdenken ist nicht gefragt, und jeder, der das kritisiert, wird niedergebügelt“, erinnert er sich. In einer ersten Betriebsversammlung meinte einer der Chefs, als ­Ostdeutscher könne er froh sein, überhaupt ­einen Job zu haben. Wenn ihm die Bedingungen nicht passen würden, solle er doch zu Lidl gehen.

Christian ließ sich nicht beeindrucken. Er blieb ruhig und wartete auf die Festanstellung mit Kündigungsschutz. Seit er vor sechs Jahren seinen unbefristeten Arbeitsvertrag in die Hand gedrückt ­bekam, gibt er keine Ruhe mehr. Noch am gleichen Tag ging er zum ­wöchentlichen Kneipenabend, um einen Betriebsrat zu gründen. Mittlerweile ist er einer von zwei ­Vertrauensleuten in Bad Hersfeld, dem größten Amazon-Standort Deutschlands. Seine Kollegen kommen mit ihren Problemen zu ihm, er setzt sich mit der Führungsetage auseinander. „Ich glaube, bei Amazon habe ich den Ruf als Querulant weg“, sagt er und lacht dabei eher zurückhaltend als aufmüpfig.

Nach einem großen Kämpfer sieht er nicht aus, wie er da in dem spärlich möblierten Verdi-Büro nahe des Hersfelder Amazon-Lagers bedacht an seinem Kaffee nippt. Eher wie ein ruhiger Stratege. Hartnäckigkeit und Durchhaltevermögen haben ihn zum vielleicht unbequemsten Amazon-Mitarbeiter gemacht. Er glaubt: „Es gibt nur zwei Möglichkeiten, mit dieser Art von Arbeit umzugehen. Entweder du wirst psychisch krank und gehst freiwillig wieder, oder du entwickelst deine ­eigenen Strategien, um etwas zu verändern.“ Christian hat sich für Letzteres entschieden. Und zu ändern gibt es so einiges, findet er.

Das Unternehmen gibt sich familiär und hierarchiefrei

Wenn man ein Amazon-Werk besucht, ist nicht sofort klar, was Christian meint. Im Logistikzentrum Graben nahe Augsburg, gut 400 Kilometer südlich von Bad Hersfeld, gibt sich das Unternehmen fami­liär und hierarchiefrei. Auf dem Gang wird geduzt, im Foyer ein Hinweis auf kostenlose Grippeimpfungen und im Treppenhaus ein riesiges Wandgemälde. Dann aber die erste Regel: „Halte beim Treppenlaufen immer die Hand griffbereit am Handlauf“, steht auf ­einem Schild, dazu eine passende Grafik.

„Sicherheit und Gesundheit werden bei Amazon ganz großgeschrieben“, sagt Anette Nachbar, Unternehmenssprecherin in neon­gelber Warnweste. Ein Slogan, den sie in der kommenden Führung durch die vier großen Logistikbereiche wie ein Mantra wiederholen wird. Sie versteht es, Besucher für dieses ­eigene Universum aus Paketen, Boxen und Förderbändern zu begeistern, in der sich die sogenannten Amazonier bewegen. Ein Universum, dessen Logik überall auf der Welt standardisierten Abläufen folgt und in dem man eine eigene Sprache spricht „Da steckt viel Intelligenz und Software dahinter“, sagt Nachbar stolz. Sie selbst habe alle ­Arbeitswege durchlaufen und kenne die ­Arbeit in der Produktion. „Umso ­wichtiger ist es, dass sich alle an die ­Regeln halten.“

 

Ein netter Euphemismus für permanente Kontrolle am Arbeitsplatz, meint Christian. Was die Unternehmenssprecherin in Graben als Sicherheitshinweis bezeichnet, empfindet er als Bevormundung: „Bei den täg­lichen Meetings wird immer wieder erklärt, wie wir unsere Schuhe binden oder die Treppe runterlaufen sollen. Ich gehe, seit ich vier bin, unfallfrei Treppen rauf und runter, das ist lächerlich. Wir sind doch keine Kinder, denen man so was beibringen muss.“ Trotzdem hätte er einmal fast eine Abmahnung – quasi die Gelbe Karte vor der Kündigung – bekommen, als ihm ein Vor­gesetzter nach der Pause entgegenkam und seine Hand nicht am Geländer sah. Oder als er seine Pause um acht Minuten vorverlegte, weil er es für sinnvoll hielt, danach am Stück länger an einem Auftrag zu arbeiten.

 

Selbstbestimmt zu arbeiten, ist bei Amazon nicht drin

 

Acht Minuten. Sich Arbeit selbst einzuteilen, den eigenen Tag selbst zu planen, die eigenen Aufgaben zu priorisieren, kurz: selbstbestimmt, als mündiger Mitarbeiter zu arbeiten, ist bei Amazon nicht drin. Den Vertrauensleuten liegen zahlreiche solcher Ermahnungen und Abmahnungen vor, in denen es um Minutenverspätungen oder die inkorrekte Körperhaltung am Arbeitsplatz geht. In einer davon wird einem Mitarbeiter mit fristloser Kündigung gedroht. Er habe sich vier Minuten vor dem Pausenzeichen „einen zusätzlichen ­Freizeitvorteil verschafft.“

 

In Großkonzernen mit konkreten Pausenregelungen ist das ein legi­timer Grund für eine Abmahnung, bestätigt Rechtsanwalt Najib Asgarzoei von der Arbeitsrechtskanzlei Hentschel. Wäre da nicht die Gegendarstellung, in der die betroffene ­Person sich rechtfertigt: Sie musste danach draußen beim Ausladen helfen und sich dafür schon vorher andere Arbeits­schuhe anziehen. Umkleidezeit zählt nicht zur Pause. Fälle dieser Art gibt es viele. Und sie passen so gar nicht zu der Aussage der Unternehmenssprecherin, die behauptet, bei Amazon würde man aus den gleichen Gründen abgemahnt wie an jedem anderen Arbeitsplatz auch, sprich: nicht ­wegen ­solchen Kleinigkeiten.

 

Das Gefühl, dass am eigenen Arbeitsplatz etwas stört, kennen viele Menschen. Manchmal sind es Kleinigkeiten, die nur nerven, manchmal aber auch größere Ungerechtigkeiten oder gar systematische Ausbeutung von ­Arbeitskräften. Strukturen, die vielleicht schon immer so waren und gegen die man scheinbar nichts ausrichten kann. Regeln, die man unsinnig findet, aber dennoch befolgen muss. An diesen Stellen trotzdem Energie und Kraft zu investieren, um etwas zu verändern, erfordert viel Mut. Man müsste sich mit Vorgesetzten anlegen, könnte damit den Job riskieren, ohne zu ­wissen, ob es überhaupt etwas bringt. Die meisten lassen es also bleiben.

 

Christian denkt anders: Er will keinen anderen Job, er will, dass sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Diese Perspektive ist die einzige, die für ihn infrage kommt. Auch wegen seines abgebrochenen Studiums: „An der Uni hab ich mich zwar eher auf theoretischer Ebene mit Arbeitskämpfen auseinandergesetzt. Jetzt bin ich selbst an der Basis. Und das ist wahnsinnig motivierend“, sagt er.

 

Mittlerweile kämpft Christian für größere Ziele

 

Anfangs waren Christians Widerstandstechniken subtiler. Den Bevormundungen, die viele bei Amazon als Teil des Systems akzeptieren, versuchte er mit Humor und vor allem mit Ausdauer entgegenzuwirken. Zweimal täglich gibt es ein Teammeeting, bei dem die Arbeiter selbst die Sicherheits­regeln wiederholen müssen. Wenn Christian an der Reihe war, zog er seine eigene subversive Show durch: „Ich erklärte die Regeln so penibel ausführlich, dass es praktisch ­unmöglich war, sich nicht über die Absurdität dieser ­Vorschriften zu wundern. ­Irgendwann kam mein Chef dann selbst zu mir und meinte, ich bräuchte die nicht mehr erklären.“

 

Mittlerweile kämpft Christian für größere Ziele: „Seit Jahren streben wir mit der Gewerkschaft einen Tarifvertrag an, wie ihn die meisten großen Unternehmen früher oder später ein­führen.“ Tarifvertrag, das würde bedeuten: festes Urlaubs- und Weihnachtsgeld, regelmäßige Lohnerhöhungen und ­verbindliche Regelungen zu ­befristeten Arbeitsverträgen.

 

Solange es all das nicht gibt, bleibt Christian ein Störenfried. Wenn er von seinen Aktionen ­erzählt, wirkt er wie ein kleiner Junge, der sich ­einen Streich ausgedacht hat. Spontan-Streiks machen ihm am meisten Spaß. Wenn besonders viel Ware im Werk ist, gehen alle gemeinsam raus, verteilen Flyer und bauen Info-Zelte auf. 

 

In Graben hängt das konzerninterne Bonusprogramm überdimensional ausgedruckt im Eingangsbereich der Kantine. ­Diejenigen, die auch auf dem Weg dorthin sind, strecken ihre Hand schnell Richtung Treppengeländer, sobald sie die Unternehmenssprecherin in der gelben Warnweste sehen. „Sicherheit ist das A und O bei Amazon“, sagt sie noch einmal. Und ­Sicherheit ist einer von drei Parametern, anhand derer der monatliche ­Bonus für alle Angestellten vergeben wird. ­Sicherheit, Qualität und Produktivität. Wofür die drei Wörter genau stehen und wie man „Sicherheit“ misst, möchte sie nicht im ­Detail erklären.

 

Der Bonus ist keine Belohnung, sondern nur ein weiteres Mittel der Kontrolle

 

Für Christian ist das Bonussystem ein gängiger Streitpunkt. Die Mitarbeiter werden damit zu schnellem Arbeiten motiviert. Statt festen Zuschlägen gibt es flexible Boni, basierend auf der Leistung der ganzen Gruppe. Wenn einer langsamer arbeitet oder einen Arbeitsunfall hat, werden im Bonussystem alle bestraft: Produktivität wird in sogenannten Units gemessen, also dem Warenumsatz, den eine Abteilung pro Monat schafft. „Es gibt Zeiten, da hat man es mit sehr sperrigen Produkten zu tun, für die man dann halt auch länger braucht. Solche Feinheiten werden aber nicht einberechnet“, kritisiert Christian. „Auch der Punkt Sicherheit ist eine Frechheit. Der ganzen Gruppe werden Punkte abgezogen, wenn sich jemand verletzt. Aber warum? Unfälle sind menschlich und sollten nicht noch bestraft werden.“

 

Der Bonus sei keine Belohnung, sondern nur ein weiteres Mittel der Kontrolle. Er schaffe eine Arbeitsatmosphäre, in der die Mitarbeiter einander gegenseitig kontrollieren und sich gegenüber der Gruppe schuldig fühlen, wenn sie selbst nicht schnell genug arbeiten oder sich ver­letzen. Außerdem sei überhaupt nicht transparent, wonach sich der Bonus richtet. „Die Ziele werden jeden ­Monat von der ­Geschäftsleitung definiert. Niemand weiß genau, welche Leistung es zu erbringen gilt.“

 

Mit einer deutschlandweiten Kampagne versucht Amazon, dem Unmut der Mitarbeiter entgegenzuwirken. „Hier bin ich richtig“, verkünden Amazonier auf zahlreichen Plakaten, auch in Graben. „Egal, wer du bist. Egal, wen du kennst. Egal, wo du vorher warst. Hier zählt nur, was du hier tust. Und wohin du mal willst“, steht in einer Sprechblase unter einem grauhaarigen Mann mit Schnauzer. Er scheint zufrieden.

 

Christian nimmt den Menschen da auf den Plakaten ihre Aus­sagen ab: „Es gibt auch überzeugte Pro-­Amazonier“, meint er. Menschen, die wie er in einer verzweifelten Lage Arbeit gefunden haben, sich wertgeschätzt und im Team aufgehoben fühlen. Oder Menschen, die sich zu 100 Prozent mit dem Unternehmen identifizieren und glauben, wenn es keinen Bonus gibt, dann müssten sie sich im nächsten Monat halt mehr an­strengen.

 

Eine spezielle Gruppendynamik, die es so nur bei Amazon gibt, wo die Grenzen von Zwang und Freiwilligkeit nicht mehr klar zu benennen sind, glaubt Christian: „Es ist ein bisschen wie in einer Sekte. Entweder wird man von diesem System aufgesaugt und macht alles mit, oder man muss ziemlich strampeln, um etwas zu verändern. Aber raus will man auch nicht unbedingt.“ In der Gewerk­schaftsarbeit hat er einen Sinn gefunden, für den es sich zu bleiben, zu kämpfen lohnt. „Pro Amazon“, steht deshalb auch auf dem ­T-Shirt, mit dem er jeden Tag zur Arbeit geht. Und da­runter, etwas kleiner gedruckt: „mit Tarifvertrag“. 30 Stück hat er davon zu ­Hause im Schrank. Damit er auch an Tagen kämpferisch bleibt, an denen ihm vielleicht die Kraft fehlt.

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