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Die Weltmeisterschaft, die keiner kennt

Foto: GHM

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Heute Nacht, vor dem ersten WM-Tag, hat sie schon überlegt, alles hinzuschmeißen: „Ich geh nicht hin“, hat sie zu Max gesagt, der im Halbschlaf versucht hat, sie zu beruhigen. „Warum tu ich mir das an?“ Sie hat mit ihrem Trainer telefoniert, auch ihm gesagt: „Ich geh nicht hin.“ Aber sie ist natürlich doch aufgestanden um fünf, hat sich ihre Augenringe überschminkt, sich ihre schwarze Bluse angezogen und ihre schwarze Haube aufgesetzt und ist mit Max, ihrem Freund, aufs Messegelände gefahren, um in ihrer Backstube alles vorzubereiten.

Tamara Seidenglanz ist die deutsche Kandidatin für die Weltmeisterschaft der Jung-Konditoren, die in diesem Jahr auf der Internationalen Bäckereiausstellung in München ausgetragen wird. In vier Backstuben kämpfen acht Konditorinnen und Konditoren unter 25 Jahren um den Titel „Bester Jung-Konditor der Welt“. Die Kandidaten kommen aus China, Japan, Taiwan, Norwegen, Island, Brasilien und Deutschland. Spanien ist kurzfristig abgesprungen, deswegen hat Brasilien spontan einen zweiten Kandidaten aufgestellt. Schlimm findet das niemand. Das ist nicht, als würde Brasilien bei der Fußball-WM zwei Mannschaften aufstellen – eher Andorra.

Als sie im November des vergangenen Jahres den Bundesentscheid zur besten Jung-Konditorin gewonnen hatte, der für die Weltmeisterschaft qualifiziert, stand für Tamara die Teilnahme an der WM nicht wirklich in Frage. Obwohl sie mit Max geplant hatte, ein dreiviertel Jahr in einer Chocolaterie in Neuseeland zu arbeiten. Für die Weltmeisterschaft verkürzten sie den Aufenthalt auf ein halbes Jahr. Seit Mai sind die beiden wieder in Deutschland. Seitdem wird geübt.

Für die acht Kandidaten der Konditoren-WM geht es nicht um 3000 Euro Preisgeld, denn die sind lächerlich im Vergleich zu dem, was sie in der Vorbereitungszeit investiert haben. Allein die Zutaten, die Tamara in den drei Monaten verbraucht hat, haben etwa 200 Euro gekostet – pro Tag. Maßanfertigungen von Formen und Förmchen nicht eingerechnet. Es geht um den Ruf, den Titel, das Wissen: Ich bin der beste Konditor der Welt unter 25 Jahren.

Von den Moderatoren oder Trainern hört man während dieser Tage immer wieder den Satz: „Es ist eine Weltmeisterschaft.“ Als müssten sie sich selbst daran erinnern. Denn wer weiß schon, dass in der dritten Septemberwoche die WM der Konditoren stattfindet? In Deutschland? Niemand. Der ganzen Welt ist in Wirklichkeit völlig egal, was hier in diesen Messehallen passiert. Jedes Kind kann Namen des französischen Kaders von der Fußball-WM 2018 aufsagen. Wer kennt den amtierenden Weltmeister der Konditoren? (Bernd Siefert heißt er, er kommt aus dem Odenwald.)

Es geht nicht um Geld, nicht um Selbstverwirklichung, nicht um Prestige

Das würde Tamara natürlich nie so sagen, denn sie liebt ihren Beruf und sie liebt es, hier zu sein und sich mit den Weltbesten zu messen. Als sie ihre Schutzbrille aufsetzt, um Bier mithilfe von Stickstoff auf minus 190 Grad gefrieren zu lassen, steht draußen vor der Scheibe ihrer Bäckerstube ihr ganzer Fanclub aus Familie und Freunden. Sie ist eine der wenigen Teilnehmerinnen, die während der Arbeit hinter den Glasscheiben sogar lacht, so offensichtlich hat sie Spaß an dieser Weltmeisterschaft.

Um Geld geht es ohnehin kaum in ihrem Beruf. „Im Schnitt verdient man als Konditorin etwa 1700 Euro netto“, sagt Tamara. Konditorin wird man um der Leidenschaft willen. Ein Wort, das so aus der Zeit gefallen wirkt, wie diese ganze Veranstaltung. Man wird nicht reich als Konditor und für Selbstverwirklichung ist auch kaum Platz. Denn meistens wird im Schichtbetrieb gearbeitet. Es gibt kaum Prestige außerhalb der Berufsgruppe, die Anerkennung, für die sie einen ganzen Morgen lang arbeiten, sie wird in der Caféstube innerhalb von einer Minute verschlungen. Nach der WM kann es schon sein, dass einige Jobangebote für die Kandidaten herausspringen. Headhunter sind aber keine vor Ort.

Am ersten WM-Tag läuft Max nervös vor Tamaras Glasfront hin und her, manchmal ruft er nervös etwas durch die Schreibe, immer umsonst, Tamara hört ihn nicht. Auch Max ist Konditor, Tamaras Trainer hat sich vor ihrer WM-Teilnahme über ihn informiert. „Er wollte wissen, ob unsere Beziehung läuft, ob ich hinter ihr stehe. Wenn mir die WM egal gewesen wäre oder ich das nicht verstanden hätte, wäre das nicht gegangen.“ Der Trainer sagt auch, wenn die Kandidaten zum Beispiel ein Tier zu Hause hätten, das viel Pflege brauche, dann funktioniere das nicht mit der Weltmeisterschaft.

Max hat Tamara Trinkpausen in den Plan geschrieben, alle zwanzig Minuten

Auf die Minute genau sind die Pläne der jungen Konditorinnen und Konditoren durchgetaktet, Max hat Tamara Trinkpausen in den Plan geschrieben, fett und in Rot, alle zwanzig Minuten. Am Anfang hält sie sie noch ein-, zwei-, dreimal, danach nur noch sporadisch. Jeder Griff ist ruhig und routiniert, sogar das Eigelb hat sie in kleine Plastikbüchsen portioniert, jede beschriftet, Puderzucker 130 Gramm, Haselnusskerne 200 Gramm. Jeder Gang zum Kühlschrank eingeplant, keinen Schritt macht sie zu viel. Auch wenn sie natürlich viel weiter weg ist vom Kühlschrank als die Japanerin Akari Kushima, mit der sie sich die Backstube teilt.

Drei harte Monate hat sie für diesen Moment geübt, das wird sie nicht versauen. In der Küche ihrer Eltern hat sie Mürbeteig, Kokosnussgelee und Praliné Crunch hergestellt. An manchen Tagen dieses heißen Sommers hat sie sich bei fast dreißig Grad auf die WM vorbereitet. Dazwischen Kira, der Hund der Familie, der Teig und Schokolade vom Boden schleckte und immer wieder wie ein Wahnsinniger von einem Zimmer ins andere rannte, beinahe gegen die Wände im Zuckerschock, erzählt Tamaras Mutter.

Siegerstück

Sieht gut aus, kann man aber nicht essen: Das Zuckerschaustück des Chinesen Lyu Haoran.

Foto: GHM
Figuren_Deutschland

Mini-Konditoren auf dem Präsentations-Tisch der deutschen Teilnehmerin.

Foto: Hein
Akari Kushima

Die Japanerin Akari Kushima modelliert einen Schneewittchen-Spiegel.

Foto: Hein
Eichhörnchen

Unter anderem diese Schokoladen-Eichhörnchen belohnte die Jury mit dem Sieg.

Foto: Hein
Chien, Ju-Yi

Hochkonzentriert: Die Taiwanesin Ju-Yi Chien.

Foto: Hein
Erleichtert, dass es vorbei ist: Tamara und Max

Erleichtert, dass es vorbei ist: Tamara Seidenglanz und ihr Freund Max Wittl

Foto: Hein
Schokolade einschmelzen

Ein Blick in die chinesische Backstube, in der Schokolade geschmolzen wird.

Foto: Hein

Es sei wie bei jeder anderen Weltmeisterschaft auch: „Wenn du mitmachst, ist deine Familie mit drin, ganz automatisch.“ Auch das macht für Tamara diese WM so besonders: Sie sieht Menschen, von denen sie nie geglaubt hat, dass sie so emotional werden können – ihretwegen. „Sonst hat immer nur meine Mama geweint, aber dass auch die Familie meines Freundes so mitfiebert und vor allem alle meine Freunde so hinter dem stehen, was ich mache? Das hätte ich nicht gedacht“, sagt sie. Immer wenn sie von der Arbeit aufblickt, winkt ihr eine Horde Deutschlandfähnchen entgegen.

Ihre Eltern können nicht viel tun während dieser zwei Tage, aber sie sind da

Tamaras Vater zieht am Morgen des ersten WM-Tages einen glitzernden schwarz-rot-goldenen Pailletten-Hut aus einer Tüte und setzt ihn seiner Frau auf die Locken. Er greift noch einmal in die Tüte und setzt sich einen zweiten auf. Ihre Eltern können nicht viel tun während dieser zwei WM-Tage, aber sie sind da. Sie werden diese Hüte die ganze Zeit tragen.

Am zweiten WM-Tag haben sich die Backstuben verändert: Wer nicht weiß, dass er sich auf der Weltmeisterschaft der Konditoren befindet, der würde es auch nicht erraten. Die Kandidaten stellen jetzt Modellfiguren aus Zucker her, der letzte Teil der Wetbewerbsvorgaben. Der Blick in die Backstuben ist manchmal skurril: Japan formt eine Art Badspiegel in grellorange, Norwegen knetet verbissen etwas Grünes, das vermutlich aus den sterblichen Überresten von Flubber besteht.

„Bei den anderen Wettbewerben, zum Beispiel beim Bundesentscheid, war ich so nervös, dass ich überhaupt nicht die Leistung bringen konnte, die ich wollte“, erzählt Tamara. Jetzt, bei der Weltmeisterschaft, habe sie das erste Mal Spaß am Wettbewerb: „Ich kann hier zeigen, dass ich eine außergewöhnliche Arbeit mache, und es gibt Menschen, die das interessiert. Und das ist so krass“, sagt sie. Als sie gerade noch eine Minute hat, um ihre Pralinen fertig zu verzieren, traut sich keiner ihrer Zuschauer draußen vor der Glasscheibe, einen Ton zu sagen. Dann ist sie fertig, sie reißt die Arme hoch. Ihre Zuschauer begreifen – geschafft – und jubeln. Eine kollektive Erleichterung dringt aus der Backstube nach draußen.

Diese Erleichterung ist wohl das stärkste Gefühl, das sich in den Momenten unmittelbar nach Ende der WM in der Halle breitmacht. Nach dreizehneinhalb Stunden weinen auf einmal sehr viele, einander fremde Menschen in der anonymen Messehalle B3 in der Messestadt in München und fallen einander in die Arme. Schon am Eingang der Messehalle gibt es Menschen, die noch nie von der WM der Konditoren gehört haben. Aber das kümmert in diesem kleinen Kosmos wirklich niemanden. Die Gelöstheit der Teilnehmer hier, sie ist von der der Teilnehmer nach dem Finale der Fußball-WM in Moskau vermutlich nicht zu unterscheiden. Es ist vorbei. Es wird ein wenig dauern, bis sie das kapiert haben. Sogar nachts hat es in ihrem Kopf noch gerattert, gebacken, glasiert, lackiert, ausgestochen, gesprüht, gerührt, geschmolzen, geliert, erwärmt, erhitzt, abgekühlt, verziert, geklebt.

Tamara ist sich fast sicher, dass sie gewinnt. Noch nie hat sie einen Wettbewerb verloren

Eine Stunde später findet schon die Siegerehrung statt, ebenfalls in der Messehalle. Vierzig Menschen sitzen auf zwei Tribünen verteilt und warten auf das Ergebnis. Tamara würde das nie aussprechen, aber sie ist sich fast sicher, dass sie gewinnt. Sie hat noch nie einen Wettbewerb verloren.

Jetzt steht sie mit sieben anderen nervösen Mittzwanzigern mit weißen Konditorenhüten abseits der Tribüne und wartet darauf, dass die ersten drei Plätze ausgerufen werden. Tamara schließt die Augen, weil sie die Spannung nicht erträgt. Drittplatzierte wird Japan. Sie versucht, ruhig zu atmen, als der Zweitplatzierte ausgerufen wird: „Germany.“

Tamara öffnet die Augen, sie geht auf die Bühne, schüttelt brav Hände, stellt sich neben ihre japanische Mitstreiterin. Ihre Mutter und ihr Vater sehen sich ganz kurz erstaunt an, dann murmeln sie sich zu: „Ist doch auch gut, ist alles gut.“ Ihre Tochter wird für sie immer Weltmeisterin sein.

Der erste Platz geht an China, Lyu Haoran. Für ihn schallt die chinesische Nationalhymne durch die Halle, kurz wird einem nochmal die Internationalität dieser Veranstaltung bewusst, als er für die Zuschauer auf den Tribünen mitsingt.  

Siegerehrung

Die drei Erstplatzierten in ihrer Arbeitskleidung nach der WM (von links): Sieger Haoran Lyu (China), Zweitplatzierte Tamara Seidenglanz (Deutschland) und die Drittplatzierte Akari Kushima (Japan).

Foto: GHM

Tamara Seidenglanz hat das erste Mal in ihrem Leben einen Wettkampf verloren. Wobei verloren auch nicht ganz stimmt, sie hat den Titel der Vize-Weltmeisterin gewonnen. Sie wird in der Backstube der Eltern ihres Freundes anfangen, ab Oktober, in einer Konditorei in der Oberpfalz. Und 2019 will sie mit Max zusammen in Frankreich arbeiten. Einem Land, in dem man noch weiß, wie man genießt.

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