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Das Tinder des...

Illustration: Katharina Bitzl

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Hunde, Kunst, Muslime, Aktien, NachrichtenStädte, Gebrauchtes, Kiffer, Fitnesscracks, Restaurants, Networker, Adoptionen. Sie alle haben etwas gemeinsam: eine App. Und zwar nicht irgendeine. Sondern eine, die funktioniert wie Tinder. Also per Swipe. Nach rechts wischen, was gefällt. Nach links, was nicht. So selektiert man bei „Tindog“ Hunde, bei „Wydr“ Kunstwerke, bei „Adoptly“ Adoptivkinder. Googelt man „das Tinder des…“, stellt man fest: Es gibt inzwischen für fast alle Bereiche des Lebens, alle Zielgruppen, alle Gelüste eine App, die Tinder kopiert. Warum ist das Prinzip so erfolgreich? Und was sagt uns das über das 21. Jahrhundert?  

Tinder hat Millionen Menschen erreicht dank eines einfachen Versprechens: Etwas so unfassbar kompliziertes, fehleranfälliges, überforderndes wie die Partnerwahl, also einen riesigen, potenziell lebensverändernden Schritt zu einem Zucken des Daumens zu schrumpfen. Diesem Trampelpfad durch den Dschungel der Postmoderne folgen die „Tinder-des“-Nachmacher. Sie brechen eine Facette, ein Problem, eine Riesenauswahl unserer komplizierten Welt auf Ja/Nein-Entscheidungen herunter.

Der Swipe wird zur epochemachenden Kulturtechnik 

„Brechen“ ist wörtlich zu verstehen. Es geht etwas kaputt dabei: die Grauzonen. Der Zweifel. Das „Vielleicht“. Denn egal, wie viele Gedanken man sich um eine Entscheidung machen würde – in der Tinder-Systematik muss man sie sofort treffen. Sonst geht es nicht weiter. Aufschub a.k.a. Prokrastination sind unmöglich, denn sie bedeuten totalen Stillstand. Ja oder nein, Schwarz oder Weiß – so simpel wird das Leben im Swipe. Und sicher. Denn erst, wenn beide Seiten wollen, kann Kontakt aufgenommen werden. Außer, die eine Seite ist ein Produkt, das sowieso verkauft werden will, logisch.

Das alles geschieht per kinderleichter Daumenbewegung, einhändig ausführbar, minimal energetisch. Man verbraucht geschätzte 0,0000000002 Kalorien per Swipe, kann ihn tausend Mal am Tag durchführen, und wenn man ab und zu die Hand wechselt, beugt man auch dem sogenannten „Smartphone-Daumen“ vor. Der Swipe wird damit zur epochemachenden Kulturtechnik wie das Feuermachen oder der Buchdruck. Nur eben viel einfacher.

Diesen kleinsten Partikel des User-Nutzens, einmal verstanden und ins kollektive Bewusstsein gepflanzt, kann man extrahieren und einiges damit anstellen. Deshalb ist der Satz „unsere App ist quasi das Tinder des…“ Dauergast bei Elevator-Pitches und Investoren-Gesprächen. Jeder versteht sofort, was gemeint ist, das Vorbild ist milliardenschwer, ein Hauch von Weltverbesserung oder wenigstens -veränderung umweht den großen Bruder. Also folgt das, was immer auf eine große oder wenigstens smarte Erfindung folgt: die tausendfache Kopie.

Ein Hauch von Weltverbesserung oder wenigstens -veränderung

Und zwangsläufig auch die Parodie: „Adoptly“, das „Tinder für Adoptionen“, war natürlich keine echte App, die kinderlose Paare mit potenziell zu adoptierenden Kindern zusammenbringen sollte. Sondern ein Kunstprojekt, das die Vertinderisierung unserer Leben kritisieren wollte. Oder wie es die Macher selbst ausdrückten: „Unsere von Technologie besessene Welt und ihr kulturelles Bestreben, alles schneller, einfacher, bequemer und sofort belohnend zu machen.“

Inzwischen wird Tinder selbst noch einmal verbessert: „Bumble“ ist das „feministische Tinder“, weil nur Frauen den ersten Schritt machen können. Und „Once“ ist das Tinder für Minimalisten, denn es schlägt nur einen Menschen pro Tag vor. Am Ende dieser Reihe an Swipe-Geschwistern steht dann, logischerweise, eine App namens „Binder". Angeblich ist sie „das Tinder des Schlussmachens“. 

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