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The New Sack Reis
In Russland brennts, im Golf von Mexiko schwimmt Öl und ein Reporter der Münsterschen Zeitung twittert am Dienstag diese Woche um kurz vor Mitternacht: „In Neuenkirchen ist ein Blumenkübel umgekippt.“ Er verlinkt in seinem Tweet das Erstlingswerk einer motivierten Lokalredaktions-Praktikantin, die den Auftrag bekommen hatte, einem Akt von Vandalismus vor den Türen des Altenheims „Antoniusstift“ in der westfälischen Gemeinde Neuenkirchen nachzurecherchieren. Dort war mitten in der Nacht ein 150 Euro teurer Blumenkübel mutwillig umgekippt worden. Ihr kurzer Bericht vom Ort des Geschehens liest sich wie das Dokument eines Kriegreporters im Fronteinsatz und wirkt auf diese Weise wie ein zynischer Kommentar auf das aktuelle Weltgeschehen. Oder wie eine Parodie auf die täglichen Herausforderungen des Lokaljournalismus. Jedenfalls ist es angesichts des geringen Nachrichtenwerts ziemlich lustig, wenn die Autorin die Bewohner des Altenheims als „fassungslos, traurig und verständnislos“ beschreibt und auch noch die Floskel „von den Tätern fehlt jede Spur“ in einem ihrer insgesamt acht Sätze unterbringt.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Dass es der Blumenkübel in den folgenden Stunden bis auf Platz fünf der weltweiten Twitter-Charts geschafft hat und die Kurznachrichten mit dem Hashtag Blumenkübel in derart gehäufter Form durch den Twitter-Stream rauschten, dass einem fast schwindelig wurde, lässt sich trotz aller Komik schwer erklären. „Wolfgang Bosbach (CDU) fordert Verbot von Killerspielen nach #Blumenkübel Anschlag. (Henningtillmann)“, „Niemand hat die Absicht, einen #Blumenkübel zu errichten (bridgerdie )“ oder „Unsichere Quellen berichten: BP schließt das Ölleck mit einem #Blumenkübel“ (Wideawake01) war dort zu lesen und Twitter-Häuptling Sascha Lobo sah sich gezwungen, folgende Zeilen zu veröffentlichen: „Sorry, da ich kein Fachmann zum Thema #blumenkübel bin, muss ich Interviewanfragen und die Verantwortung ablehnen.“
Mittlerweile wurde eine Facebook-Gruppe rund um den Blumenkübel gegründet, der WDR ist mit Kameras vor dem Antoniusstift erschienen, es gibt Lieder über den Blumenkübel, eine dramatisierte Lesefassung und ein Bekennervideo , in dem ein Aktionist der Gruppe „Free the flowers“ mit Strumpf über dem Kopf die Verantwortung für den Vorfall übernimmt. „Wir kommen nicht mehr mit bei den ganzen Dingen, die im Internet heute rund um den Blumenkübel entstanden sind“, schreibt ein Online-Redakteur der „Münsterschen Zeitung“ in einer letzten Aktualisierung seines Artikels über die „Internetwelle um einen zerstörten Blumenkübel“.
Natürlich kann man die mediale Aufregung über den Blumenkübel als „New Sack Reis“ für einen Sommerloch-Hype halten oder als Beweis für die Krise des Lokaljournalismus zitieren. Phänomene wie der Blumenkübel zeigen aber auch, wie mächtig Twitter als Kommunikationskanal geworden ist. Mag die Meldung vom ungestürzten Blumenkübel noch so banal sein, so beweist sie vor allem, dass Twitter kein Austauschprogramm für Befindlichkeiten ist, sondern ein Medium geworden ist, das Nachrichten verbreitet. Über Retweets wird das Wichtige vom Unwichtigen getrennt, Twitter sorgt für eine Art Überleben von Information durch Wiederholung. Was sich in dem digitalen Ausleseprozess durchsetzt, wird zum so genannten "Mem". Der Evolutionsbiologe und Oxford-Professor Richard Dawkins hat das Kunstwort in den 70er Jahren erfunden und wenn man wöllte, könnte man sich an dieser Stelle in einem philosophischen Aufsatz über die Bedeutung dieser eigentümlichen Wortneuschöpfung verlieren. Kurz gesagt geht das „Mem“ auf die Idee zurück, dass nicht nur Gene einer Evolution unterworfen sind, sondern auch Informationen.
In den USA gilt der „meme“ als das gängige Wort für die Bezeichnung eines Internet-Hypes. Auf der Seite knowyourmeme.com sind aktuell 3352 Mems gelistet. Der traurige Keanu Reeves , der per Photoshop in alle möglichen mitleidserregenden Szenen gebastelt wurde, ist einer davon. Beim Lying down Game filmen und fotografieren sich die Menschen überall im Land mit der Stirn auf dem Asphalt. Die Homepage erzählt die Entstehungsgeschichte zu jedem dieser Memes und dokumentiert beinahe wissenschaftlich dessen Verbreitung.
Nun hat endlich auch Deutschland seinen ersten, eigenen Internet-Mem erlebt. Und dem Antoniusstift auf diese Weise auch gleich zwei neue Blumenkübel verschafft. Eine Firma aus Würzburg hat sie gestiftet. „Die neuen Blumenkübel sind am Freitagmorgen in Neuenkirchen eingetroffen,“ heißt es auf der Homepage der „Münsterschen Zeitung“ und gewohnt detailreich geht es weiter: „Um 10 Uhr lieferte ein Postbote per Overnight-Express die neuen trittsicheren Blumenkübel aus Metall an.“