Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

“Mama hat was total Niedliches gemacht!”

Illustration: Veronika Günther

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Ich kriege das Gefühl immer, wenn ich merke, wie sie sich über was Kleines freuen. Dass wir alle zu Besuch sind, zum Beispiel. Oder dass der Sohn meiner Schwester was Lustiges gesagt hat. Oder dass alle über einen Witz lachen, den einer von ihnen gemacht hat. Ich kriege das Gefühl aber auch, wenn sie etwas nicht hinkriegen oder unbedingt hinkriegen wollen. Wenn meine Mutter fragt, wie man denn "an zwei Orten gleichzeitig" im Internet sein könne, wenn ich ihr einen neuen Tab öffne. Oder wenn mein Vater außer Atmen gerät, weil er mir unbedingt den Koffer die Treppe rauftragen will. Ich habe dann immer das spontane Bedürfnis, meine Mutter zu umarmen oder meinen Vater auf die Wange zu küssen. Und zu sagen: "Du bist süß!"

Eigentlich redet man so nur über Kinder: Süß, wie sie da auf dem Handy rumpatscht. Niedlich, wie doll er sich über das Geschenk gefreut hat. Jemanden süß zu finden, das bedeutet auch, dass man sich ihm in diesem Moment irgendwie überlegen fühlt. Oder ein bisschen größer zumindest. Ohne das böse zu meinen. Partner ziehen deshalb meist eine Schnute und sagen "Och Mann!", wenn man etwas, das sie gemacht oder gesagt haben, als "süß" bezeichnet. Man will nicht süß sein, es lässt einen schrumpfen, unbeholfen und wieder kindlich erscheinen. Und genau darum kann man Eltern eigentlich nicht süß finden – man kann sie nicht zu Kindern machen, weil man ja selbst das Kind ist. Immer noch und für immer.

Und trotzdem passiert es irgendwann. Trotzdem erwischt man sich dabei, wie man gerührt dabei zuschaut und zuhört, wie Eltern etwas machen, versuchen, erzählen. Irgendwann sind sie zu Menschen geworden, die sich für Niedlichkeit eignen.

Allerdings nicht von jetzt auf gleich. Es gibt da eine Übergangsphase, die extrem wichtig ist. Die Phase nämlich, in der man anfängt, Eltern nicht mehr nur als Eltern zu sehen. Sondern als eigenständige Menschen. Mit einem eigenen Leben, das es gab, bevor es einen selbst gab, das es jetzt gibt, da man aus dem Haus ist, und das es auch gab, während man im Kinderzimmer hockte. Da lief es bloß im Hintergrund. Dass Mama und Papa mehr sind als nur Mama und Papa, begreift man erst, wenn man selbst vom Kind zum eigenständigen Menschen wird und Abstand zwischen sich und die Eltern bringt, räumlich, aber auch emotional.

Wenn wir unsere Eltern nicht mehr als Beschützer brauchen, können sie entspannen – und Schwächen zeigen

Klar, man bleibt ihr Nachwuchs, aber langsam stellt sich doch eine gewisse Augenhöhe ein. Ganz früher, da waren Eltern reine Respektpersonen, sie wussten alles und konnten alles, sie erklärten einem die Welt, sie waren die Welt. Dann kam man in die Pubertät und sie wurden zu peinlichen Nullcheckern, die aber immer noch Macht über einen hatten, die immer noch stärker waren als man selbst.

Und dann werden sie plötzlich Menschen, die man um Rat fragen kann, aber die einem nichts mehr vorschreiben können, und von denen man nicht mehr instant-genervt ist. Sie werden von Mama und Papa zu Beate und Klaus oder Monika und Wolfgang und man selbst steht ihnen als Erwachsener gegenüber.

Und dann? Dann bleibt die Zeit ja nicht einfach stehen. Man selbst wächst weiter ins Leben hinein und mit der Welt mit, während Mama und Papa langsam aus dem Leben herauswachsen beziehungsweise die Welt sie überholt. Sie werden älter und ein bisschen langsamer, ihre Schwächen werden sichtbarer – oder sie trauen sich zum ersten Mal, sie vor ihren Kindern zu zeigen, vor denen sie immer so stark sein mussten. Mama bittet auf einmal darum, dass man ihr den Drucker erklärt, und man findet das liebenswert, weil sie einen doch noch nie darum gebeten hat, dass man ihr etwas erklärt. Papa schleppt zwar den Koffer, aber oben angekommen muss er “Puh” sagen und lachen, weil er jetzt doch außer Atem ist.

Jetzt, wo wir sie nicht mehr zwingend als Beschützer und Versorger brauchen, sondern einfach freiwillig weiterlieben, können sie entspannen. Sie können vor uns ratlos sein oder erschöpft. Damit wecken sie in uns etwas, was sie sonst für uns hatten: einen Beschützerinstinkt. Als wären sie auf einmal die Kinder und wir die Eltern. Sie die süßen Kleinen, wir die kompetenten Großen. Wir sind gerührt.

Ja, wenn man jemanden süß findet, fühlt man sich ihm in diesem Moment überlegen. Süß-Finden ist herablassend. Aber auf eine zärtliche Art, weil eine weitere Bedingung dazugehört: Liebe oder zumindest Zuneigung. Darum findet man den Partner oder die Partnerin manchmal so schrecklich süß. Und darum kann man auch die Eltern irgendwann süß finden. Das ist ein Zeichen dafür, dass man selbst erwachsen geworden ist. Der nächste Schritt wäre dann vermutlich, dem Impuls nachzugeben, den man in solchen Momenten hat: Mama zu umarmen und “Du bist süß!” zu sagen. 

Dieser Text stammt aus der jetzt-Redaktion. Um die Identät ihrer (sehr süßen!) Eltern zu schützen, möchte die Autorin anonym bleiben.

Noch mehr Texte mit Mamas und Papas:

  • teilen
  • schließen