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"An unserem Geburtstag gehe ich auf den Friedhof"

joto / photocase.de

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In der ersten Klasse hatte Julian (Name von der Redaktion geändert) das Gefühl, mal nachfragen zu müssen: „Mama, habe ich eigentlich einen Zwilling?“ Es stellte sich heraus: Ja, er hatte mal einen. Eine Schwester, die im fünften Schwangerschaftsmonat neben ihm gestorben war. Und plötzlich ergab alles Sinn in seinem sechsjährigen Kopf: Das Gefühl, unvollständig zu sein, die allgegenwärtige Angst vor dem Tod, der Hass auf andere Zwillingspaare.

Woher die Intuition kam, dass er Teil eines Zwillingspaares war, kann er nicht erklären: „Ich finde das ja auch seltsam. Aber ich hatte einfach immer das Gefühl, auf etwas oder jemanden zu warten. Darauf, dass ein Mensch endlich nach Hause kommt, den ich sehr gut kenne. Das Gefühl kann man niemandem beschreiben, der das nicht selbst erlebt hat.“

Schätzungen aus embryologischer Forschung besagen, dass zwischen 30 und 60 Prozent aller Schwangerschaften anfangs als Mehrlingsschwangerschaften angelegt sind. Dafür, dass mehr als ein Kind geboren wird, ist der menschliche Körper aber eigentlich nicht ausgelegt und so sterben viele Embryonen schon in den ersten Wochen. Der Abgang wird oft nur als Blutung wahrgenommen, verlässliche Zahlen zu verlorenen Zwillingen findet man deshalb kaum. Lebende Mehrlinge kommen tatsächlich nur bei etwa jeder 30. Schwangerschaft zur Welt.

Noch heute hat Julian Schuldgefühle: Hat sein Leben das seiner Schwester gekostet?

Viele Psychologen und Ärzte messen diesem vorgeburtlichen Vorfall kaum Bedeutung bei. Einige Experten befürchten allerdings, dass er gravierende Folgen für den überlebenden Zwilling haben kann. Evelyne Steinemann, Therapeutin in ihrer Praxis für systemische Lösungen und Autorin des Buches: "Der verlorene Zwilling - Wie ein vorgeburtlicher Verlust unser Leben prägen kann", zum Beispiel sagt: "Der vorgeburtliche Tod eines Geschwisters im Mutterleib ist ein Verlusttrauma. Zum Zeitpunkt des Todes musste der überlebende Embryo oder Fötus ohnmächtig miterleben, wie der andere einfach verschwand. Die Hilflosigkeit des alleine im Uterus Zurückbleibenden hinterlässt tiefe Spuren."

Tatsächlich leidet Julian, der heute 22 Jahre alt ist, noch immer unter dem Verlust der Schwester. Er vertraut niemanden. Bei jedem Menschen rechnet er damit, dass er ihn verlassen könnte. Enge Berührungen machen ihn verrückt, die Badewanne ist die Hölle für ihn: "nass, warm, bäh!", sagt er und bestätigt damit die Theorie einiger Therapeuten, dass viele, die einen Zwilling verloren haben, mit einem warmen Bad nicht zurecht kommen: Das Umfeld erinnere den Körper an die traumatische Zeit in der Gebärmutter.

Seit Julian zehn Jahre alt ist, hat er außerdem eine Essstörung – er lässt quasi immer die Hälfte übrig. Er möchte nicht zu viele Ressourcen für sich beanspruchen und schon gar nicht zu viel Raum einnehmen. Noch heute hat er Schuldgefühle: Hat sein Leben das seiner Schwester gekostet? Aber auch sein Überleben war nicht selbstverständlich: Julian kam zwei Monate zu früh mit einem Gendefekt zur Welt. Als Säugling erkrankte er zweimal an Hirnhautentzündung und verweigerte lange die Nahrungsaufnahme.

Wenn er sich vorstellt, wie es hätte sein können, wenn auch seine Schwester überlebt hätte, strahlt er und wippt energiegeladen auf seinem Stuhl vor und zurück: "Ich meine, überleg doch mal, wie geil wäre das? Ich würde alles für sie tun, alles! Ich stell sie mir vor, wie mich selbst, mit roten Haaren, nur lang und gelockt. Ich meine, überleg doch mal!! Wie geil wäre das?"

Nicht jeder Mensch, der einen Zwilling verloren hat, muss darunter leiden

Auch Julia stellt sich manchmal vor, wie es wäre. Immer dann, wenn sich etwas Großes in ihrem Leben verändert: Als sie ihr Abi machte, als sie ihr Studium beendet hatte, als sie mit dem Job anfing. Immer wieder drängte sich die Frage auf: "Wo würde sie jetzt stehen?" Sie, damit meint Julia ihre eineiige Zwillingsschwester, die nach acht gemeinsamen Monaten im Mutterleib von der Nabelschnur um den Hals getötet wurde.

Seit Julia denken kann, geht sie mit ihrer Mutter alljährlich am Morgen ihres Geburtstags auf den Friedhof und legt dort so viele Rosen ab, wie sie Jahre alt wird – und ihre Schwester alt geworden wäre. Als sie kleiner war, konnte sie den Zusammenhang noch nicht verstehen, das Ritual war einfach da. Je älter sie wird, desto emotionaler wird sie aber beim Gedanken an die verlorene Schwester. Vor etwa zwei Jahren, als sie vierundzwanzig Rosen ablegte, brach sie in Tränen aus.

Dabei geht es ihr die meiste Zeit sehr gut. Sie sieht den Tod ihres Zwillings als besondere Geschichte an, nicht so sehr als tragisches Schicksal, als verstörenden Verlust. Bindungsprobleme oder besondere Ängste hat sie keine und auch sonst glaubt sie, hat sie der Tod der Schwester nicht weiter beeinflusst.

Ludwig Janus ist Pränatalpsychologe und erklärt, wie es zu den unterschiedlichen Folgen des vorgeburtlichen Traumas kommen kann: "Nicht jeder Mensch, der einen Zwilling verloren hat, muss darunter leiden. Viele, die mit guten Rahmenbedingungen aufwachsen, sind zufrieden mit ihrem Leben und interessieren sich oft auch gar nicht so sehr für die Geschichte ihres Bruders oder ihrer Schwester. Oft bleibt das Trauma also vollständig verborgen, bis ein anderes Trauma es wieder hervorholt. Wer selbst allerdings schon eine Reihe an Traumata erlebt hat, leidet auch unter diesem ersten mehr."

Eine These, die sich zumindest dann bestätigt, wenn man Julian mit Cedrik vergleicht. Denn auch Cedrik hat seinen Zwilling im fünften Schwangerschaftsmonat verloren. Julian leidet unter dem Verlust, Cedrik dagegen interessiert sich nicht besonders dafür. Während Julian in seinem Leben viel Schreckliches erleiden musste, auch sonst familiäre Probleme hat, lebt Cedrik seit seiner Geburt mit beiden Eltern und drei Geschwistern in einem friedlichen Öko-Haushalt auf dem Land.

Eine Psychotherapie kann bei einem vorgeburtlichen Trauma kaum helfen

Wenn sich der Verlust des Zwillings schon vor der Geburt ereignet hat, nehmen das viele Menschen nicht als Tragödie wahr, denn Embryonen und Föten schreibt man selten Gefühle zu. Das Zwillingspaar hatte in den Augen vieler noch keine Gelegenheit, eine intensive Beziehung aufzubauen. Das stimmt so allerdings nicht. Denn die Zwillinge nehmen schon ab der fünften Schwangerschaftswoche wahr, dass da noch jemand bei ihnen ist. Sie hören den Herzschlag des Zwillings lauter als den der Mutter und teilen sich häufig sogar den gleichen Blutkreislauf. Als Föten spielen oder kämpfen sie miteinander und sind schließlich schwer traumatisiert, wenn der vorher lebendige Spielpartner plötzlich tot ist. Häufig muss ein Fötus dann noch wochenlang mit dem leblosen Körper neben sich existieren, weil der Tod des Zweiten erst bei der Routineuntersuchung der Mutter beim Gynäkologen festgestellt wird.

In gewisser Hinsicht kann das vorgeburtliche Trauma sogar noch tückischer sein, als eines, das man nach der Geburt bewusst erlebt. Während sich spätere Traumata nämlich mit Gesprächen innerhalb einer Psychotherapie behandeln lassen, hat dieser Ansatz laut Janus bei vorgeburtlichen Traumata keine Chance: "Der Verlust des Zwillings vor der Geburt hat zu einer Zeit traumatisiert, in der die Sprache noch keine Rolle gespielt hat, es kein sprachliches Verständnis gab. Deshalb gibt es hier keine sprachliche, nur die körperliche Erinnerung. Und die lässt sich auch nachträglich nicht bewusst erinnern und in Worte fassen, sondern nur erspüren."

Julian, der sich seit Jahren in psychotherapeutischer Behandlung befindet, kann noch keine besonderen Fortschritte erkennen. Und auch dass viele andere Betroffene unter dem Wissen vom verlorenen Zwilling leiden, lässt sich heute nicht mehr leugnen: Immer mehr Psychologen beschäftigen sich mit dem Phänomen, immer mehr Selbsthilfegruppen werden gegründet. Und auf dem Grab von Julias Schwester werden immer mehr Rosen liegen. 

 

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