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Die Redaktion gesteht: Diesen Fernsehschrott lieben wir

Illustration: Lucia Götz

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Niemand redet gerne drüber, aber jeder tut es: sich Schrott im Fernsehen, in Mediatheken oder auf Streaming-Portalen reinziehen. Sendungen, von denen vielleicht nicht mal der eigene Freund oder die eigene Freundin weiß, dass man sie heimlich gut findet. TV-Vorlieben und -Gewohnheiten, von denen man niemals auf einer Party reden würde, weil einen sofort alle schräg anschauen würden. Heute gesteht die Redaktion ihre Guilty-Glotz-Pleasures: 

Max kennt sämtliche Zweiter-Weltkrieg-Dokus

Ich glaube, das hat angefangen, als wir Ende der Neunziger umgezogen sind und für eine viel zu lange Zeit nur öffentlich-rechtliches Fernsehen empfangen konnten. Elf Jahre alt müsste ich da gewesen sein. Und genauso langweilig wie das Gelaber von meiner privaten Vergangenheit klingt vielleicht für die meisten die hundertfünfundsiebzigste Hitler-Doku. Ich behaupte einfach mal: Ich kenne sie alle. Wie Hitler an die Macht kam, wer ihn beschützte, wer ihn töten wollte und mit wem er angeblich geschmust hat.

Viele dieser Dokus benutzen auch noch die gleichen Fernseh-Aufnahmen von damals, gibt ja nicht sooo viele unterschiedliche. Mir egal. Flugzeuge lassen Bomben auf Dresden regnen? Ich gucke zu. U-Boote in der Nordsee? Klar. Das alles erschreckte mich als Elfjährigen und fasziniert mich heute: dieser Blick in unsere Vergangenheit. Nicht, weil ich es gut finden würde, was die Nazis damals verbrochen haben – im Gegenteil natürlich. In diesen Dokus zeigt sich genau das, was ich meiner Geschichtslehrerin nie glauben wollte: Man lernt aus der Geschichte eine Menge für Gegenwart und Zukunft, sieht Entwicklungen und Verhaltensweisen, die man heute und künftig dringlichst verhindern muss – und das durch die oft verstörenden Bilder halt schon eindringlicher, als durch Büchertexte. 

Max Sprick

Charlotte glotzt gerne Rotlicht-Trash

Schon als ich klein war, hatte ich eine Schwäche für Sensationsjournalismus. Das darf man vermutlich gar nicht schreiben, aber nachdem mein älterer Bruder mich beim Fernsehen stets gemaßregelt hat, habe ich mir kurzerhand mit neun Jahren von meinem Kommunionsgeld (und natürlich mit logistischer Unterstützung meines Vaters) einen eigenen Fernseher gekauft – und damit wohl auch eine mittelschwere Ehekrise zwischen meinen Eltern ausgelöst. Am Ende durfte ich den Kasten behalten und habe spätestens ab der Pubertät alles geglotzt, was das Boulevardprogramm hergegeben hat. “Taff”, “Exklusiv”, “Explosiv”, später auch die fiesen Rotlichtreports, die auf Sendern wie VOX oder RTL II nach 22 Uhr liefen.

Mit dem Studium hat meine Sucht dann ein bisschen nachgelassen. Bis vor zwei, drei Jahren. Seitdem bieten Streamingplattformen wie Netflix und Amazon, aber auch Online-Magazine wie Vice einem nämlich den ganzen Rotlicht-Trash verpackt als Gesellschaftsreportage, die man ganz ohne schlechtes Gewissen bingen kann. Männer mit bizarren Ganzkörperoperationen, junge Frauen, die unfreiwillig im Pornobusiness landen, ein Tag im Leben eines Zuhälters - alles on demand verfügbar und getarnt als Dokumentation – I love it!

Charlotte Haunhorst

Miriam schaut Trailer von Filmen, die sie nie im Kino anschauen wird

Einen ganzen Film zu gucken, dauert mindestens eineinhalb Stunden. Und ein Großteil ist so vorhersehbar, dass man das Ende schon nach den ersten zehn Minuten erahnt. Darum spare ich mir diese Zeit und schaue stattdessen die Trailer der Filme auf Youtube. Am liebsten ganze Trailerstrecken, die mich zwölf Minuten lang hauptsächlich mit Schwarzblenden, zu schnellen Schnitten und kakophonisch aufeinanderfolgender Filmmusik überfordern. Im Zwei-Minuten-Takt stellt sich das Emotionszentrum meines Gehirns auf die wild durcheinander geworfenen Filmgenres ein: vom Kloß im Hals beim Krebsdrama mit Buchvorlage über Emotionslosigkeit beim neuen Actionfilm mit Mark Wahlberg – basierend auf einer wahren Geschichte – bis hin zu Verzückung, wenn die ersten Töne der Melodie von „Harry Potter“ erklingen.

Trailer sind Highspeed-Gefühlstherapie. Sie zeigen die Möglichkeiten der Zukunft auf („Diesen Film werde ich mir angucken!“) und lassen den Zuschauer in vorfreudiger Euphorie zurück. Nicht selten wird man enttäuscht, wenn man tatsächlich ins Kino geht. Die Geschichte jedoch, die ich mir beim Trailerschauen ausmale, ist immer wundervoll.

Miriam Pontius

Nadja lacht auch bei Neunziger-Sitcoms mit Lachkonserven

In einem Winter habe ich mal alle acht Staffeln "Full House" 

hintereinander geschaut, während andere die neuesten Heißer-Scheiß-True-Crime-Stories gebingt haben. Aber bei Sitcoms aus den Achtziger- und Neunzigerjahren weiß ich einfach was ich kriege, darum schaue ich sie gerne: Die Charaktere sind sehr stabil, die Witze erwartbar und am Ende jeder Folge ist alles gut (außer in ganz krassen, aber auch krass seltenen “To be continued…”-Doppelfolgen). Und ja, ich lache auch, wenn ich diese Serien anschaue, und zwar an Stellen mit Lachkonserven, bei denen sich andere Menschen schämen, weil das so blöd ist. Ich fühle mich da einfach gut aufgehoben. Aus dem gleichen Grund nutze ich auf Spotify hauptsächlich die Fünf-Freunde-, Drei-Fragezeichen- und Bibi-Blocksberg-Playlists. Leider habe ich erst neulich festgestellt, dass dort alle sehen können, was ich mir anhöre.

Nadja Schlüter

 

Chris schaut Karnevalssendungen

„Die Karawaaaane zieht weiter, de Sultan hätt Doosch!“ „Mer losse d’r Dom en Kööööllle!“ – so schallt es manchmal aus meinem Fernseher, wenn Karnevalszeit ist und ich alleine zu Hause bin. Denn ich schaue ab und zu gerne Karnevalssitzungen. Ja, die mit dem Tusch nach jedem Gag und mit als Kapitän verkleideten Lokalpolitikern und mit Funkemariechen.

 

Die Witze der meisten Büttenredner sind auf einem Niveau, dass Mario Barth dagegen wie ein Hochintellektuellen-Humorist wirkt. Die Musik ist Schrott, die Tanzeinlagen der Karnevalsgarden mit ihren dauerlächelnden Blondinen rückständig und der Lokalpatriotismus vollkommen gestrig. Aber genau deshalb kann ich nicht umschalten. Ich sitze da mit einer Mischung aus Ungläubigkeit, dass die all das wirklich zur besten Sendezeit machen dürfen, und aus Sensationsgeilheit, mit der ich auf die nächste missratene Pointe warte wie Gaffer bei einem Auffahrunfall auf den Streit zwischen den Unfallparteien.

 

Wahrscheinlich tue ich das aber vor allem, weil ich dann für eine kurze Zeit wieder acht Jahre alt sein darf. Damals habe ich Karnevalssitzungen immer mit meinem Vater angeschaut. Er lachte laut über die Witze und sang jedes Karnevalslied mit – und er war dabei so gut gelaunt wie selten. Das gab mir immer ein warmes Vater-Sohn-Gefühl. Und um das wiederzubeleben, zumindest ein bisschen, ist es vielleicht auch okay, sich Schrott reinzuziehen.

Christian Helten

 

 

 

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