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Der Feminismus-Reflex nervt

Foto: nanihta / photocase.de

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Ein fremder Mann hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich vielleicht gerade gemansplained werde. Es war im Sommer, in einem Berliner Park. Ein Freund und ich standen auf der Wiese und haben uns unterhalten. Es war ein langes Gespräch und es ging um etwas, mit dem er sich sehr viel beschäftigt hatte und ich mich sehr wenig. Also habe ich sehr wenig geredet und er sehr viel.

Auf einer Bank saßen zwei Männer und mir fiel auf, dass sie sich immer wieder zu uns umdrehten. Irgendwann kam der eine auf uns zu. „Entschuldigung“, sagte er, er wolle zwar nicht stören. Aber er säße jetzt schon eine Weile auf der Bank und habe unser Gespräch mitbekommen. Und eigentlich wirke es eher wie ein Vortrag. Und er wolle uns nur darauf aufmerksam machen, dass ich als Frau sehr wenig spräche. Und Mansplaining und so.

Ich bewundere diesen Mann für seinen Mut. Und ich finde es gut, dass er uns angesprochen hat. Gleichzeitig hat mir dieser Vorfall etwas verdeutlicht, das öfter passiert, wenn es um Feminismus geht. Etwas, das auch mir passiert. Ich nenne es einen Feminismus-Reflex, der dazu führt, dass Frauen (und Männer) in ihrer konkreten Situation kritisiert werden.

Der Mann im Park hat einerseits den Freund dafür kritisiert, dass er sich so viel Raum genommen hat. Andererseits hat er indirekt mich dafür kritisiert, dass ich mich nicht stärker in den Vordergrund gestellt habe. Aber nicht etwa, weil er uns kannte und bei uns öfter solche Dynamiken beobachtet, sondern, weil er uns bloß als Mann und Frau gesehen hat.

Der Feminismus-Reflex führt dazu, dass wir Menschen vorverurteilen und auf ihr Geschlecht reduzieren. Ein anderes Beispiel ist eine Frau, die nicht arbeiten geht. Wir sind so sehr darauf getrimmt, dass Frauen die gleichen Chancen bekommen müssen, dass viele sich gar nicht vorstellen können, dass eine gut gebildete Frau sich freiwillig dazu entscheidet, nicht zu arbeiten. Wenn sie es doch tut, muss sie sich immer wieder dafür rechtfertigen.

„Wir müssen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass alle Frauen so leben können, wie sie es wollen“

Ich denke nicht, dass der Feminismus-Reflex dem Feminismus inhärent ist. Es gibt es viele Feministinnen und Feministen, die nicht einzelne Menschen für ihre Entscheidungen kritisieren würden. Auf der anderen Seite gibt es viele Menschen, die sich gar nicht als Feministinnen bezeichnen, aber trotzdem immer wieder dem Feminismus-Reflex unterliegen. 

Überhaupt kann man kaum von „dem“ Feminismus sprechen, denn es gibt sehr viele verschiedene Strömungen. Barbara Holland-Cunz ist Professorin für Gender-Studies in Gießen. Sie sagt: „Klassischer liberaler Feminismus würde sagen: Wir müssen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass alle Frauen so leben können, wie sie es wollen.“

Im Bezug auf den Job würde das zum Beispiel heißen: Kostenlose Kita-Plätze oder bessere Rückkehr aus Teilzeit. Dinge, die ich wichtig finde. Gleichzeitig heißt das, dass eine Freundin, die gerade ein Kind bekommen hat, zu Hause bleiben kann, wenn sie möchte. Und ihr Mann arbeitet. Trotzdem ist das nicht immer gut angesehen.

An der Uni habe ich mich in Selbstmarketing-Seminaren für Frauen auf die Karriere-Welt vorbereitet. Ich habe „Lean In“ gelesen, das Buch von Facebook-Co-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg, in dem sie Frauen dazu aufruft, sich im Beruf stärker durchzusetzen. Und ich habe die Diskussion um die Frauenquote verfolgt, mit der man mehr Frauen in Führungspositionen bringen möchte.

Durch all das hat sich in meinem Kopf festgesetzt, dass Leistung vor allem mit guten Noten, und einer erfolgreichen Karriere zu tun hat. Nicht damit, die eigenen Kinder so großzuziehen, dass sie zu selbstbewussten Menschen werden, oder die alten Eltern so zu pflegen, dass sie ein schönes restliches Leben haben.

Mir wurde eingetrichtert, dass ich als Frau für Gleichberechtigung kämpfen muss

Doch die Hausfrau sollte im öffentlichen Ansehen genauso viel Wert haben wie die digitale Nomadin oder die Professorin. Nur so kann ich mich doch als Frau (und auch als Mann) wirklich frei entscheiden, meine Zeit lieber in andere Menschen zu investieren, zum Beispiel in die sogenannte „Care-Arbeit“, die genau so anspruchsvoll ist. In einem Aufsatz schreibt die bekannte amerikanische Feministin Nancy Frazer: „Indem sie die Lohnarbeit aufgewertet hat, hat die politische Kultur des staatlich organisierten Kapitalismus die soziale Bedeutung von unbezahlter Pflegearbeit und Fortpflanzungsarbeit verschleiert.“

Dass Care-Arbeit heute meist als weniger wertvoll angesehen wird, ist ein Problem. Frauen können sich nicht wirklich frei entscheiden. Wollen sie sich mehr der Karriere widmen, werden sie immer noch oft gebremst. Es gibt zu wenig Kinderbetreuungsplätze, zu wenig gesellschaftliches Ansehen für Männer, die sich um die Kinder kümmern, und so weiter.

Wollen sie nur wenig oder überhaupt nicht arbeiten, kommt das bei manchen Menschen nicht gut an. Bei Menschen, die gut gebildet sind, die eher die Grünen oder die Linke wählen als die CDU und die eigentlich das Ideal haben, dass alle Menschen so sein können, wie sie wollen. In vielen Situationen, und da nehme ich mich nicht aus, sind sie dann aber doch nicht so liberal.

Wenn sich eine Freundin von mir entscheiden würde, überhaupt nicht in einem „klassischen Job“ zu arbeiten, sondern zu Hause bei den Kindern zu bleiben, würde ich das in einem ersten Reflex verurteilen. Mir wurde eingetrichtert, dass ich als Frau für Gleichberechtigung kämpfen muss, und dass diese Gleichberechtigung unter anderem bedeutet, genauso die eigene Karriere zu verfolgen wie der Mann. Das führt dazu, dass ich Frauen manchmal automatisch benachteiligt sehe, auch, wenn sie es gar nicht sind. Und daraus folgt, dass ich in einem Reflex Frauen für ihre freien individuellen Entscheidungen kritisiere. Und das tun viele in unserer Gesellschaft.

Mit der Frage, ob solch eine Kritik berechtigt ist, wende ich mich an Paula-Irene Villa, Professorin für Allgemeine Soziologie und Gender Studies in München. Sie findet, Kritik gehöre zum Alltag dazu. „Man kann keine politische Haltung haben, die darauf abzielt, etwas zu verändern, ohne individuelle Einstellungen zu kritisieren“, sagt sie. Und: „Kritik an der individuellen Praxis kann immer verletzend sein, muss es aber nicht. Das müssen wir im Alltag aushalten. Zudem ist die Kritik von Praxis keine Abwertung einer Person.“

Ich frage mich: Wieso müssen wir individuelle Einstellungen kritisieren? Wenn alle Frauen so leben können sollen, wie sie es wollen, dann sollten wir keine Frau dafür kritisieren, dass sie gerne zuhause bei den Kindern bleibt. Ich kann mich entscheiden, stundenlang einem Mann zuzuhören, ohne selbst etwas zu sagen. Und in dem Moment unterhalten wir uns nicht als Mann und Frau, sondern als Mensch mit Wissensvorsprung auf einem bestimmten Gebiet und Mensch, der neugierig ist und dazulernen möchte.

Ich finde, wir sollten weiter dafür kämpfen, dass die Strukturen sich dahingehend verbessern, dass jeder Mensch wirklich Wahlfreiheit hat. Aber nicht insgeheim Menschen kritisieren, wenn sie sich für einen Lebensstil entscheiden, der nicht in erster Linie an Karrierezielen orientiert ist. Oder nicht manchen feministischen Forderungen entspricht. Denn das bringt uns dem Ziel nicht näher, dass Frauen frei entscheiden können.

Ich finde, wenn die Kritik von struktureller Machtungleichheit dazu führt, dass nicht mehr die Bedürfnisse der einzelnen betroffenen Personen im Vordergrund stehen, ist eine Grenze überschritten. Es fühlt sich an, wie eine Bevormundung von erwachsenen Frauen, die selbst entscheiden sollen.

Dem Mann im Park habe ich erklärt, dass ich mich gerade nicht in meiner Rolle als zuhörende Frau gegenüber einem sprechenden Mann sehe. Dass ich mir der Situation durchaus bewusst bin, aber dass sie nichts mit Unterdrückung zu tun hat. Er hat genickt, aber ich bin nicht sicher, ob er mir geglaubt hat.

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