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„Ich denke, dass mich Männlichkeit persönlich einschränkt“

Foto: complize / photocase.de; Bearbeitung: jetzt

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„Natürlich schränkt mich meine Männlichkeit ein“, sagt Christoph. Der 24-jährige Student sitzt auf seinem Dresdner Balkon, seine blonden Haare stehen wild vom Kopf ab. „In der Pubertät wollte ich immer voll behaart sein – wie es sich für einen Mann gehört – und hatte Probleme damit, es noch nicht zu sein“, sagt er. „Auch die Norm, nicht über Gefühle zu sprechen, hing mir lange nach. Ich kämpfe immer noch damit.“

Wie Christoph geht es wohl vielen Männern. Denn die Erwartungen an den Mann sind hoch. Schon 1984 sang Herbert Grönemeyer: „Männer kaufen Frauen, Männer steh'n ständig unter Strom, Männer baggern wie blöde.“  Der Mann soll also stark sein, die Frau erobern und sich allem ermächtigen.

Kritische Männlichkeit ist eine Teil-Disziplin des Feminismus

Es war der Feminismus und später die kritische Männlichkeit, die Christoph dazu brachten, seine Männlichkeit zu hinterfragen. Was das genau ist? „Kritische Männlichkeit ist eine Teil-Disziplin der feministischen Theorie und ohne den Feminismus nicht zu denken“, sagt Männerforscher Christoph May im Interview. Er ist  Gründer des HeTox Magazine, das sich der kritischen Männlichkeit widmet. Zudem gibt er regelmäßig Workshops zum Thema.

„Kritische Männlichkeit möchte den Mann kritisch und profeministisch reflektieren und in der Öffentlichkeit zur Sprache bringen“, erklärt May. Er sagt „profeministisch“, um die Leistung der feministischen Bewegung als Mann nicht zu vereinnahmen. Für Männer bedeute das vor allem Selbstkritik und Awareness: Wie bestimmen Männerbilder den Alltag? Wieso verdient die Kollegin 21 Prozent weniger? Warum wenden Frauen pro Tag 87 Minuten mehr Zeit für Care-Arbeit auf als Männer?

Noch populärer ist der Begriff der toxischen Männlichkeit. Doch im Gegensatz zu dem Begriff, der erst einmal männlich-normierte Verhaltensmuster beschreibt, geht kritische Männlichkeit weiter. Sie fasst zusammen, dass Männer für die Gleichberechtigung nicht nur Privilegien abgeben, sondern davon profitieren. Und sie gibt Handlungsanweisungen.

„Ich denke, dass mich Männlichkeit persönlich einschränkt, wenn auch unterbewusst“

 

Auch Johann, 30, hat sich schon Gedanken über seine Männlichkeit gemacht. Er ist gerade Vater geworden und arbeitet als Berater für Kommunikation, Politik und Strategie. Neben allen Privilegien, die er als weißer Mann genießt, nimmt er auch die Nachteile wahr. „Ich denke, dass mich Männlichkeit persönlich einschränkt, wenn auch unterbewusst. Ich arbeite zum Beispiel zu viel. Mehr als ich müsste“, sagt Johann, grinst schief, während er in seiner Gartenparzelle auf dem Tempelhofer Feld in Berlin sitzt.

Auch Männer leiden also unter der Ungleichbehandlung der Geschlechter. „Der Mann neigt dazu, zu viel zu arbeiten und verfolgt Ideale, die der eigenen Gesundheit nicht guttun“, sagt Johann. Dennoch habe er nicht annähernd so viele und starke Einschränkungen wie Frauen, sagt Christoph. „Ich kann, im Gegensatz zu einer Frau, immer reden und mir wird dabei zugehört, ich kann easy in den Busch pinkeln und oberkörperfrei rumlaufen, ohne dass es jemanden stört.“

Die Kritik an der normierten Männlichkeit, wie sie heute besprochen wird, ist keine moderne Idee. 1977 veröffentlichte Klaus Theweleit seine Dissertation „Männerphantasien“, die den Diskurs um kritische Männlichkeit in Deutschland anstieß. Anfang der 1980er entwickelte sich die kritische Männlichkeitsforschung. Hashtags wie #metoo, #aufschrei und die daraus entstandenen Bewegungen führten dazu, dass Feminismus und somit auch die kritische Männlichkeit heute wieder diskutiert wird.

Kritische Männlichkeit ist der Beweis dafür, dass Feminismus nicht nur was für Frauen ist

Die kritische Männlichkeit ist quasi ein Nebenprodukt dieses Trends. Es ist der Beweis dafür, dass Feminismus nicht nur was für Frauen ist. Sie zeigt auf, was Männer an der Gleichberechtigung aller Geschlechter gewinnen. Dass es von eigenem Vorteil ist, sich Feminist zu nennen.

Doch was bedeutet kritische Männlichkeit in der Praxis? „Kritisch männlich zu sein, heißt für mich, Emotionen zuzulassen und auf mich zu achten – sodass es mir gut geht, ich meinem Körper näher bin, mir Schwächen eingestehen und darüber reden kann. Ich merke, dass ich durch diese Erkenntnisse die krassesten Einschränkungen, das Schweigen zum Beispiel, hinter mir lassen konnte“, sagt Christoph.

Johann reflektiert heute häufiger, was er nur seines Geschlechts wegen macht, findet das aber schwierig: „Denn ich kann ja Mitglied im Fußballverein sein, weil es bei mir um die Ecke ist – oder ich mache es, weil es sich als Mann so gehört.“ Was den Mann also dazu motiviert, Fußball zu spielen, sei daher schwierig herauszufinden. „Ich kann ja nicht in mein Unterbewusstsein schauen, ich kann nur schwer auseinandernehmen, was mich in meiner Sozialisation geprägt hat.“

„Um die mediale Übermacht von Männerfussball zu stoppen, empfiehlt es sich: nicht gucken, nicht hingehen, abschalten“

Christoph May schlägt zum Thema Fußball vor: „Um die mediale Übermacht von Männerfussball zu stoppen, empfiehlt es sich: nicht gucken, nicht hingehen, abschalten.“ Stattdessen solle man in Teams mit Maximum 20 Prozent Männeranteil spielen und sich jede Meisterinnenschaft anschauen. Dass er damit nicht unbedingt die Mehrheit der Männer erreicht, ist ihm bewusst. Er versteht seine Tipps als Instrumente, den Status quo, also das Machtgefälle zwischen Mann und Frau, erst einmal fühlbar zu machen.

Als radikal will May nicht gelten: „Wie könnte das zu radikal sein? Im Gegenteil.“ Es sei viel mehr eine Offenbarung nach 36 Jahren voller kultureller Männermonotonie. Eine Frage der Perspektive. Durch kritische Männlichkeit entdecke er zum Beispiel tolle Bücher, Songs und Serien von Frauen, die er vorher nicht gesehen hatte.

Die Theorie der kritischen Männlichkeit hat also das Potential, dem Feminismus zuzuarbeiten und zu bestärken. So sang Herbert Grönemeyer weiter: „Männer nehmen in den Arm, Männer geben Geborgenheit, Männer weinen heimlich, Männer brauchen viel Zärtlichkeit". Wenn sich mehr Männer das eingestehen könnten, ist schon einiges getan.

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