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Auf der Suche nach der Einsamkeit in Brighton
Ein junges Paar schlendert händchenhaltend an mir vorbei, beide tragen ihre knallengen Levis-Jeans mit absurder Entspanntheit. Ein paar Meter weiter unterhält sich ein Obdachloser mit einer alten Dame über das Wetter. Ein Straßenmusiker-Trio trommelt mit geschlossenen Augen. Vor einem Vintageladen schieben zwei Mädchen Kleiderbügel mit riesigen Norwegerpullis hin und her. Und in einem Straßencafé höre ich junge Eltern ihrem Nachwuchs einen „Babyccino“ bestellen.
Ich bin allein in Brighton unterwegs, dem Seebad an der südenglischen Küste, wo ich derzeit lebe, aber einsam fühle ich mich überhaupt nicht. Im Gegenteil. Ich werde getragen von den vielen Fremden, inspiriert und in meinem wohligen Alleinsein nicht gestört. Einsam sein ist anders, Einsamkeit muss sich dumpf und leer anfühlen. Wie eine hohle Pistazienschale oder wie eine volle, die man nicht aufkriegt. Diese Stadt aber ist eher eine volle Tüte Rosinen-Nuss-Mischung, saftig und bunt. Hier will man nach allem greifen, alles auskosten, darin baden. Hier kann man sich eigentlich nur wohl fühlen. Dachte ich – doch in Brighton leben angeblich besonders viele einsame Menschen. Hier müsste die neue britische Ministerin für Einsamkeit, Tracey Crouch, also genug Menschen finden, um die sie sich kümmern kann. Nur wo sind die? Spielen mir hier alle was vor? Und was bedeutet Einsamkeit eigentlich? Ich mache mich auf die Suche nach Antworten.
Weil ich nicht unvorbereitet losziehen will, informiere ich mich im Internet. „Einsamkeit bezeichnet meist die Empfindung, von anderen Menschen getrennt und abgeschieden zu sein“, sagt Wikipedia. „Oft wird mit Einsamkeit eine negativ konnotierte Normabweichung oder ein Mangel verbunden, mitunter werden damit aber auch positive Aspekte in Zusammenhang gebracht, beispielsweise im Sinne einer geistigen Erholungsstrategie.“ Aha, da ist es ja, mein geliebtes Alleinsein. Aber den Glückseligen muss man kein eigenes Ministerium einrichten. Ich suche also nach der ersten Kategorie. Nach den Mangel-Exemplaren.
In Brighton sollen die Menschen so offen und hilfsbereit sein wie nirgendwo sonst auf der Insel
Auf meinem Weg durch die Stadt ragt an einer Straßenecke ein Haus mit türkis-gelbem Anstrich in den wolkenlosen Himmel. Davor sitzt eine junge Frau auf einem Schlafsack, die Knie hat sie fest unters Kinn gezogen. Ihr zerschlissener grüner Schal bedeckt ihren schlanken Hals nur spärlich. Vor ihr auf dem Boden liegt eine Mütze, darauf ein paar Penny. Brighton, so viel weiß ich, ist nach London die Stadt mit den meisten Obdachlosen in Großbritannien. Ohne Dach über dem Kopf, auf sich gestellt zu sein, das stelle ich mir einsam vor.
Ich setze mich neben die junge Frau und sage: „Hi.“ Die Kälte auf dem Boden ist kaum auszuhalten. Sie schaut mich an, braune Augen, raue Lippen, und sagt: „Hey.“ Sie wirkt nicht sonderlich überrascht: „Gerade waren erst die Jungs von der BBC da. Die drehen hier eine Serie über obdachlose Frauen.“ Sie sagt, dass sie Kelly heiße und schon seit einigen Jahren obdachlos sei. Vorher habe sie „up North“ auf der Straße gelebt. Aber hier in Brighton sollen die Menschen so offen und hilfsbereit sein wie nirgendwo sonst auf der Insel. Das habe sie zumindest gehört.
Kelly, die erst 18 ist, aber viel älter aussieht, zeltet nachts in einem nahegelegenen Park. Die Stadt hat angedroht, ihr Zelt zu räumen, wenn sie es nicht bis morgen abgebaut hat, sagt sie gleichgültig. Doch im Heim wohnen will sie auf keinen Fall, dort sei sie schon einmal an die falschen Leute geraten.
Wir schauen auf vorbeilaufende Waden. Für ihre Besitzer sind wir unsichtbar. Ob sie sich einsam fühlt, frage ich. „Nein“, sagt Kelly. Ihr Freund sei bei ihr, nachts. Ich stelle mir vor, wie sie sich eng aneinander geschmiegt wärmen und wie sie morgens zusammen riesige Regenpfützen von ihrem Zeltdach schütten. Gemeinsam betteln würden sie aber nicht, sagt Kelly. Das funktioniere nicht so gut. Darum sitzt sie hier alleine. Als ich gehe, lege ich etwas Geld in ihre Mütze.
Kelly gehört also nicht zu den neun Millionen Briten, die sich häufig oder ständig einsam fühlen. Das sind knapp vierzehn Prozent, etwas mehr als in Deutschland, wo zwölf Prozent der Bevölkerung von Einsamkeit betroffen ist. Weil mir kalt ist, gehe ich in ein Café, ins „Marwood“. Es ist der wohl am wenigsten einsame Fleck der Stadt. Wäre ich einsam – was ich nicht bin – würde ich hierhin kommen. Das „Marwood“ ist ein Raum, der einem sagt: Hier ist alles erlaubt. Hier darfst du sein, wie du bist. Auch einsam, wenn es sein muss. Aber lange bleibst du das sowieso nicht. Ein riesiges Poster des „Brighton Naked Bikeride“ hängt an der Wand, Star-Trek-Figuren schweben unter der Decke, dazwischen wummern Bässe, die von einem wabernden Stimmengewirr begleitet werden. In einer Ecke erspähe ich einen jungen Mann, vor ihm auf dem Tisch steht ein halb ausgetrunkenes Bier. Der Platz ihm gegenüber ist leer. Das ist mein Mann, denke ich. Als ich eine Weile später zu ihm hingehen will, ist der Platz von einer jungen Frau besetzt. Natürlich. Was für eine blöder Gedanke, hier nach der Einsamkeit zu suchen!
Die Einsamen gehen nicht raus. Man findet sie hinter den Fenstern, an denen jeden Tag die Jalousien unten bleiben
Eigentlich schön, dass ich niemanden treffe, der einsam ist. Aber im nächsten Moment macht es mich traurig. Wahrscheinlich, denke ich, kann man die Einsamkeit in keiner Stadt der Welt spüren, egal, wie hoch ihre Einsamkeitsrate ist – weil die Einsamen ja eben nicht teilnehmen am Stadtleben. Sie gehen nicht raus. Man findet sie hinter den Fenstern, bei denen man sich immer wundert, dass dort jeden Tag die Jalousien unten bleiben. Dahinter sitzen sie in Wohnzimmern zwischen Familienfotos, auf denen nur Menschen zu sehen sind, die sich längst nicht mehr bei ihnen melden. Und auch sonst kann sie niemand aus ihrer Einsamkeit befreien, weil sie dort eben niemand findet.
Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen, klappe meinen Laptop auf und stelle fest, dass ich Strom brauche. An einem kleinen Münzautomaten liefert das „Marwood“ gegen 20 Penny für eine halbe Stunde Strom. Als ich ein Münzstück einwerfen will, lese ich, dass das Geld an lokale Organisationen gespendet wird – an Hilfsorganisationen für einsame Menschen. Was machen die mit meinen 20 Penny?
Drei Tage später sitze ich bei einem Treffen von „TTTB – Time to Talk Befriending“, einer dieser Organisationen, die einsamen Menschen helfen. Jeden Mittwoch treffen sich hier Einsame bei „Tea & Company“, einer Teestunde in einer alten Kirche, der St. Marys Church, deren Vorraum zu diesem Zweck zu einem kleinen Café umfunktioniert wird. Emily Kenward, die Gründerin von TTTB, hat mittlerweile 200 freiwillige Helfer an ihrer Seite, darunter sogenannte „Befriender“, die sich regelmäßig mit einsamen, über 65-jährigen Menschen treffen. „Einsamkeit betrifft vor allem die Älteren. Wir holen sie aus ihrer Unsichtbarkeit“, sagt Emily. Dorthin, wo ich jetzt mit rund 30 Leuten sitze. Es gibt Sandwiches, Kuchen, dazu Tee und Kaffee. Zwischendurch singt ein Studenten-Chor. Halleluja. Die an insgesamt fünf runden Tischen versammelten alten Leute klatschen begeistert.
„,Ich weiß nicht, wie lange ich noch hätte weiterleben können, ohne jemanden zum Reden zu haben‘ – solche Dinge höre ich hier oft“, sagt Emily. „Tatsächlich sterben einsame Menschen früher. Schließlich macht Einsamkeit krank. Depression, Bluchhochdruck, Demenz, all diese Krankheiten können die Folge sein.“ Einsam würden alte Menschen vor allem dann, wenn ihre Partner sterben. Oder wenn sie wegen fehlender Mobilität kaum noch das Haus verließen, sagt Emily. Was mit jungen Leuten ist, frage ich. Oder werden wirklich nur alte Menschen einsam? „Goodness, nein!“, sagt Emily. „Jeder kann einsam sein, egal wie alt. Viele unserer jungen Freiwilligen machen hier mit, weil sie sich selbst einsam fühlen.“ Vor allem Leute, die neu in der Stadt sind und noch niemanden kennen. Oder junge Mütter mit Babys, die kaum noch etwas unternehmen. Oder Singles. Stimmt, denke ich. An die hatte ich noch gar nicht gedacht. Singles müssten doch die sein, die unter all den hippen, glücklichen Pärchen in dieser Stadt besonders schlimm dran sind.
„In einer Stadt wie Brighton muss man sich schon ziemlich anstrengen, um einsam zu sein“, sagt Liam
Später am Abend treffe ich in einer Bar meinen Bekannten Liam. Er kam vor einem halben Jahr nach Brighton und beendete kurze Zeit später seine Beziehung. Ich frage, ob er sich unter all den Schönen und Gutgelaunten hier nicht manchmal einsam fühlt. „Wenn ich alt und hässlich wäre, dann vielleicht, ja. Aber ich bin ja zum Glück jung, gutaussehend und aufgeschlossen, und fühle mich hier tatsächlich nicht einsam“, sagt er und lacht. Er trinkt einen großen Schluck aus seinem Pint. „Natürlich weiß ich, wie Einsamkeit sich anfühlt, das weiß jeder. Aber ehrlich gesagt fühle ich mich befreit, seit ich Single bin. Und in einer Stadt wie Brighton muss man sich schon ziemlich anstrengen, um einsam zu sein.“
Wären dann also nur die hässlichen Introvertierten einsam? Oder ist, wer sich nicht weit genug ins Leben stürzt, einfach selber Schuld? Macht man es sich mit dieser Erklärung nicht viel zu einfach?
Charlotte zum Beispiel hat nichts falsch gemacht. Ihr ist die Einsamkeit einfach so passiert. Vielleicht ist das sogar die typische Art, wie man da hineingerät: schleichend, Stück für Stück, immer tiefer. Charlotte lerne ich bei „Tea & Company“ kennen, dem TTTB-Treffen. Noch bis vor vier Jahren war sie ein Mann: Ronald. Jetzt sitzt sie in einem kurzen, roten Kleid vor mir, in der kühlen St. Marys Church. Flüchtig streicht sie mit ihrer Hand, deren Fingernägel rot lackiert sind, eine Strähne ihrer blonden Perücke hinters Ohr, die verdeckt, was an Ronald erinnert. „Emily und die Organisation haben mein Leben verändert“, sagt die 87-Jährige. Charlottes Leben geriet vor zehn Jahren aus der Balance, nach dem Tod ihrer Frau. Mit ihm kam auch die Einsamkeit. Der damalige Ronald verließ die Wohnung kaum. Ich stelle mir vor, wie er in einer dunklen Küche gesessen hat, alleine, zwischen den Erinnerungen. „Schon als Kind habe ich mich als Frau verkleidet“, sagt Charlotte. Ronald begann, die alten Kleider seiner Frau anzuziehen, wagte sich irgendwann auf die Straße.
Aus Ronald wurde so allmählich Charlotte – doch die Einsamkeit wurde nur noch schlimmer. Ihr Sohn brach den Kontakt ab, er will seinen Vater zurück, eine Charlotte will er nicht sehen. Auch ihre Enkelkinder hat Charlotte seit acht Jahren nicht gesehen. TTTB hat sie aus der Isolation geholt. „Manchmal fühle ich mich schuldig dafür, dass mir hier so viel Gutes widerfährt.“ Sie heftet ihre wässrigen Augen an einen Punkt an der Wand hinter mir und zieht ihren roten Rock über die dünnen Oberschenkel. Dann grinst sie schelmisch, als sie mir von ihrem größten Wunsch erzählt: Einmal ein Brautkleid tragen zu dürfen.
Auf dem Weg nach Hause, durch Brightons belebte Straßen, denke ich darüber nach, was ich von Charlotte über Einsamkeit gelernt habe: dass man schnell handeln muss, wenn sie einzieht. Man muss die Einsamkeit rechtzeitig aussperren, sonst mauert sie einen immer weiter ein und es ist schwer, da wieder rauszukommen. Ich bin nicht sicher, ob jeder es schafft, seine Festung selbst abzureißen, bevor es zu spät ist. Zwar kann man sich äußerlich verändern, doch einsam ist man mit sich selbst, in sich drin. Da hilft es auch nicht, wenn um einen das Leben tobt, wie hier, in einer der einsamsten Städte des Landes.