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„Es fühlt sich an, als ob man eine Stufe auf der Treppe verfehlt“

Foto: Kristian Bengstsson

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„Es ist, als wenn einen jemand mitten in der Nacht weckt und fragt: Könntest du mir vielleicht helfen, dieses völlig überflüssige Loch zu graben bei Minusgraden ohne Jacke?“ So oder mit ähnlich bildlichen Sätzen beschreibt Moa Romanova in „Identikid“ ihre Gefühle. In ihrer Graphic Novel illustriert die heute 27-Jährige basierend auf ihren Tagebucheinträgen ihr Leben zwischen Panikattacken und Techno-Parties, Therapiesitzungen und Tinder-Dates. Moa spricht damit ein ernstes Thema an, ohne den Humor zu verlieren. Wie das geht und wie sie mit ihrer Erkrankung zurechtkommt, hat sie jetzt am Telefon erzählt.

jetzt: Für viele wäre es ein Albtraum, das eigene Tagebuch der Öffentlichkeit zu präsentieren. Wie war es für dich, deine persönliche Geschichte zu teilen? 

Moa Romanova: Gar nicht schwer oder beängstigend. Ich bin schon immer super offen mit meiner Privatsphäre umgegangen. In Schweden habe ich jahrelang einen Blog geschrieben, auf dem ich meine persönlichen Gedanken geteilt habe. Ich finde es eher erleichternd. Denn niemand kann dich entblößen, wenn du es vorher schon getan hast. Auch in meinem Freundeskreis lachen wir lieber über peinliche Situationen, als uns dafür zu schämen. Ich fühle mich sehr wohl damit, für andere ein offenes Buch zu sein.

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Illustration: Moa Romanova

„Das Schlimmste war, dass ich mich alleine mit meinen Problemen gefühlt habe“

Gibt es Dinge, die du nicht öffentlich preisgeben würdest? 

Ja, auf jeden Fall. Immer, wenn ich andere Personen mit reinziehen könnte. Zum Beispiel kann ich mir nicht vorstellen, ein Comic über die Beziehung mit meinem Ex-Freund zu schreiben. Und es gibt ein paar seelische Wunden, die zu sehr schmerzen, um sie zu veröffentlichen. 

Was wolltest du mit deiner Novel „Identikid“ erreichen? 

Ich wollte mir zuallererst beweisen, dass ich ein Comic fertigstellen kann. Außerdem kann Identikid einen Beitrag dazu leisten, mentale Gesundheit mehr zu diskutieren. Als es mir psychisch am schlechtesten ging, hätte ich mir gewünscht, ein Buch wie meines zu lesen. Das Schlimmste war nämlich, dass ich mich alleine mit meinen Problemen gefühlt habe. Diese Einsamkeit wollte ich in der Novel zum Ausdruck bringen. Keiner meiner Freunde kannte das Problem, psychische Probleme zu haben. Es gab keine Community, der ich mich mitteilen konnte. Ich war ganz allein mit meinen Panikattacken.

Aber kann so ein Buch bei Leser*innen, die sich stark damit identifizieren, nicht auch dazu führen, dass sich ihre negativen Gefühle verstärken?

Bestimmt. Deshalb wollte ich dieses ernste Thema aufgreifen, ohne deprimierend zu wirken. Mir war es wichtig, dass man über mein Buch lachen kann, denn das ist der magische Trick, um Angststörungen langfristig zu besiegen. Ich beschreibe den Humor in Identikid immer so: Stell dir eine Person vor, die sehr schwere Papiertüten trägt, eine Treppe herunterläuft und hinfällt. Die Tüten gehen kaputt. Der Gesichtsausdruck der Person zeigt aber Gleichgültigkeit. Dieser Moment, in dem alles zu Grunde geht, aber man trotzdem über die ganze Scheiße, die einem passiert, lachen kann – das wollte ich mit dem Buch ausdrücken. 

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Illustration: Moa Romanova

In Identikid rufst du oft dein Tinderdate oder deine Mutter an, wenn du Angst bekommst. Was hilft dir noch bei Panikattacken?  

Es hilft mir auf jeden Fall zu telefonieren, um runterzukomme. Oder ich mache Atemübungen. Ich würde aber sagen, Zeit hat mir am meisten geholfen. Das Gefühl ist immer weniger schlimm geworden. Am Anfang hatte ich noch tierisch Angst davor, wieder eine Panikattacke zu bekommen. Ich gruselte mich davor und steigerte mich immer mehr in diese Angst hinein. Aber nachdem ich mehr als ein Jahr lang immer wieder Panikattacken hatte, konnte ich mich darauf einstellen. Ich wusste, dass sie wieder vorbei gehen und nur temporär sind. Außerdem hat es mir geholfen, eine Community zu finden, die mich versteht, und mich selbst zu pushen. Als der erste Therapeut nicht passte, musste ich eben einen anderen suchen. Eine Zeit lang kein Gras zu rauchen, war auch wichtig für mich.

In dem Comic gibt es auch eine Party-Szene, in der du beim Feiern mit Freunden keinen Alkohol trinkst. Warum hilft dir der Verzicht offenbar?

Jegliche Drogen können gefährlich werden, wenn man psychisch krank ist – auch Gras und Alkohol. Denn sie manipulieren und betäuben deine Gefühle. Als ich viel Gras geraucht habe, fühlte ich mich wie in einer Wolke eingebettet. Ich konnte meine innere Stimme, meine Intuition nicht mehr hören. Wenn sich dein Leben eh schon anfühlt, als sei es nicht real, verschlimmert Gras diese Unwirklichkeit noch. Ich musste wieder lernen, auf mich zu achten, anstatt vor mir selbst zu fliehen.

„Als ich das erste Mal eine Panikattacke hatte, dachte ich, ich hätte einen Herzinfarkt“

Du lebst in dem Buch fast wie in einer Parallelwelt – wenn sich dein Freundeskreis für die nächste Party interessiert oder dafür, ob du mit deinem Date Sex hattest, spürst du eine innere Traurigkeit. Bist du enttäuscht, wie deine Freund*innen mit der Situation umgegangen sind? 

Nein, gar nicht. Meine beste Freundin zum Beispiel ist einfach eine Person, die das Leben sehr leicht nimmt. Ihr größtes Ziel ist es, einen reichen Mann zu heiraten und ich finde das total witzig. Ich habe mich zwar missverstanden gefühlt, aber das liegt nicht daran, dass sie böse oder gemein waren. Sie haben meine Situation bloß nicht verstanden. Das ist ein großer Unterschied. 

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Illustration: Moa Romanova

Panikattacken beschreibst du als „Unwirklichkeitsgefühl“. Du sagst, alles erscheine dir in dem Moment unbedeutend. Wie fühlt sich eine Panikattacke körperlich an? 

Das ist bei jedem anders. Bei mir breitet sich aber auf jeden Fall ein kaltes Gefühl über meinen ganzen Körper aus. Bis in die Fingerspitzen. Ich spüre mein Herz, wie es immer schneller schlägt. Ich bebe und zittere. Es fühlt sich an, als ob ich eine Stufe auf der Treppe verfehlt hätte und dann falle. Die Angst breitet sich innerhalb von Millisekunden aus. Als ich das erste Mal eine Panikattacke hatte, dachte ich deshalb, ich hätte einen Herzinfarkt. Seither begannen meine Attacken auch immer wieder mit dem Gedanken: Jetzt wäre eine ganz besonders beschissene Situation, um eine Panikattacke zu bekommen. Das kann sein, wenn ich die Mutter meines neuen Freundes kennenlerne oder wenn ich auf einer Fähre bin, von der ich nicht flüchten kann. Aber inzwischen bekomme ich fast keine Panikattacken mehr. 

Was würdest du jemandem sagen, der ähnliche Erfahrungen machen muss? 

Es wird besser. Weniger angsteinflößend. Und vertrau dich jemandem an. Das Gefühl von Einsamkeit macht alles nur noch schlimmer. (Ein Hund bellt im Hintergrund.)

Und schaffe dir einen Hund an? 

Haha, ja! Wenn du Zeit, Geld und Interesse daran hast, hol dir einen Hund! Das hat mir am besten geholfen. Er gibt mehr Routine im Alltag, ich kann mich um ihn kümmern und weiß immer: Mein Hund kommt an erster Stelle. Das gibt mir Sicherheit. Und er ist so hässlich! Er sieht aus wie ein Känguru. Ich lache so oft über meinen Hund. Das würde ich auch jedem raten: Finde etwas, worüber du lachen kannst!

Wie geht es dir heute? Bekommst du noch Panikattacken? 

Mir geht es gut. Nein, ich hatte schon lange keine Attacke mehr. Trotzdem bin ich noch in Therapie. Manchmal dachte ich mir: Es geht mir doch gut, ich brauche keine Hilfe mehr, ich möchte nicht mehr darüber reden. Aber das ist ein Trugschluss. Man muss sich immer wieder mit seinen mentalen Problemen auseinandersetzen – es ist ein bisschen wie einen Garten zu pflegen. Mir hilft es zu wissen, dass ich immer einen festen Tag in der Woche habe, an dem ich mit einer Person über mich reden kann. Das gibt mir Halt.

Das Erscheinungsdatum der Graphic Novel wurde Corona-bedingt noch einmal verschoben – auf den 15. April 2020.

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