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„Ich will keine Angst mehr haben“

Seit zwei Jahren wird Merle von einem Mann gestalkt. Jetzt wehrt sie sich.
Foto: privat

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Er drohte mit Vergewaltigung, schickte massenhaft Pakete, bombardierte sie mit Nachrichten: Merle wurde mehr als zwei Jahre lang massiv von einem Mann gestalkt, den sie nicht persönlich kennt und nur ein einziges Mal gesehen hat. Jetzt geht die 25-Jährige gerichtlich gegen ihren Stalker vor. Auf ihrem Instagramaccount erzählt sie offen, was passiert ist. Gerade organisiert die Studentin aus Berlin außerdem eine Charity-Party, um Geld für Stalking-Opfer und ihren Prozess zu sammeln. Im Interview erzählt sie, warum ihr dieser Schritt nicht leicht gefallen ist, ihr aber sehr hilft – und was sie anderen Stalking-Opfern rät. 

jetzt: Du hast in den vergangenen Monaten sehr viel durchgemacht. Wie geht es dir gerade? 

Merle: Seit ich meinen Fall öffentlich gemacht habe, geht es mir deutlich besser. Ich bin zum ersten Mal in einer aktiven Rolle und nicht diejenige, die darauf wartet, dass Polizei und Staatsanwaltschaft handeln. Ich entscheide was ich mache. Das tut mir gut. 

Viele Frauen, die gestalkt werden, behalten ihren Fall für sich. Woran liegt das?

Oft sind die Stalker Ex-Partner und viele Opfer schämen sich. Man denkt, dass man eine Schuld trägt, dass man der Person gegenüber verpflichtet ist. Nach einer Beziehung, Freundschaft oder Affäre ist es schwer, sich einzugestehen, was dieser Mensch einem eigentlich antut.

Du hast keine persönliche Beziehung zu deinem Stalker. Hast du dennoch auch Schuld bei dir gesucht? 

Ja. Alles hat nach einem Vortrag im Frühjahr 2017 angefangen. Ich forsche zum Thema Antisemitismus. Der Mann saß im Publikum, aber wir haben nicht miteinander gesprochen. Er wohnt in einer anderen Stadt als ich. Direkt im Anschluss hat er mir eine Anfrage auf Facebook geschickt, das machen viele, um sich auszutauschen. Er aber hat mir geschrieben, dass er sich in mich verliebt habe. Irgendwann kamen Nachrichten wie „Du wirst mir gehören“. Später hat er mich beleidigt, und alles kommentiert, was ich auf Facebook gepostet habe. Ich dachte erst: Ich habe ihm ein falsches Zeichen gegeben, ihn irgendwie angeschaut. Ich weiß, dass das nicht stimmt. Und selbst wenn: Nichts davon würde sein Verhalten relativieren oder entschuldigen. Frauen wird in dieser Gesellschaft beigebracht, die Schuld bei sich zu suchen. Das macht selbst vor mir als Feministin nicht Halt. 

Wann hast du dich entschieden, zur Polizei zu gehen?

Etwa nach einem Jahr. Da hat er meinen Freund beleidigt und gedroht, ihm Gewalt anzutun und mich zu vergewaltigen. Rückblickend ist für mich krass, dass ich erst dann gehandelt habe: Es musste erst eine andere Person bedroht werden. Ich hab ihn wegen Beleidigung angezeigt. Bei der Polizei wurde ich gefragt, warum ich überhaupt öffentliche Vorträge halten würde. Das fand ich bezeichnend – als würde ich deswegen eine Mitschuld tragen.

„Er schickte mir Weinlieferungen, Dildos, eine Sexpuppe, einen Hometrainer, Autoreifen“

Was ist dann passiert?

Nach der Anzeige war ein bisschen Ruhe, aber er hat mir immer wieder beleidigende Nachrichten geschrieben. Im Februar 2019 ist es dann eskaliert: Die Polizei hatte bei einer Anzeige von mir meine Adresse nicht geschwärzt, er wusste also, wo ich wohne. Und hat angefangen, Unmengen von Magazinen und Paketen zu mir nach Hause zu bestellen. 

Hast du gleich gewusst, dass die Lieferungen von ihm sind? 

Nein, ich dachte erst, dass ich selbst das versehentlich bestellt habe, dass ich unabsichtlich meine Mailadresse irgendwo angegeben habe. Denn von ihm aus gab es kein Zeichen, dass er dahinter stecken würde. Aber es hat kein Ende genommen. Es kamen Weinlieferungen, Dildos, eine Sexpuppe, einen Hometrainer, Autoreifen. Das war eine schlimme Zeit, weil ich nicht wusste, ob er das war oder ob ich das war. Mittlerweile haben wir die Gewissheit, dass er hinter all dem steckte.

Wie bist du damit umgegangen?

Ich habe Freund*innen um Hilfe gebeten, die mir mit den Stornierungen geholfen haben. Alleine hätte ich das nie geschafft. Und ich bin zu einem Anwalt gegangen. Er hat sich unter anderem um die Pakete gekümmert, ich habe ihm die Rechnungen eingescannt. Zurückschicken musste ich sie aber selbst. An manchen Tagen bin ich mit drei Paketen gleichzeitig zur Post gegangen. Gerade ist Ruhe. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass das nichts heißt – es kann immer wieder losgehen.

Wie hat sich das Stalking psychisch und körperlich auf dich ausgewirkt?

Ich habe krasse Panikattacken bekommen, auch im Urlaub, obwohl ich ja wusste, dass er fünf Flugstunden von mir entfernt war. Auch im Treppenhaus hatte ich manchmal große Angst, denn er weiß, wo ich wohne. Vergangenen Sommer und Herbst hatte ich immer wieder Schwindelattacken. Ein Semester habe ich kaum noch studiert, weil ich so ausgebrannt war. Auch auf Freundschaften hat es sich krass ausgewirkt, ich hatte kein anderes Thema mehr. Ich bin kaum mehr rausgegangen, habe mich drinnen eingegraben. Und ich hatte sehr wenig Kraft, mich um andere zu kümmern. 

„Ich will meine Ruhe und keine Angst mehr haben“

Inwieweit hat sich das dadurch geändert, dass du den Fall öffentlich gemacht hast?

Es hilft mir, dass mir so viele Frauen schreiben, dass ihnen sowas oder Schlimmeres auch passiert ist, dass sie sich aber nie getraut haben darüber zu sprechen – mit niemandem. Mein Weg hilft auch vielen anderen Opfern. Ich werde bald einige von ihnen treffen. Das gibt mir Kraft. Über Stalking wird zu wenig gesprochen. 

Was rätst du anderen Frauen, die gestalkt werden? 

Ich hab ein Stalking-Tagebuch geführt, das hat mir sehr geholfen. Man muss alles vorlegen können, was passiert ist und alles beweisen können. Es gibt vom Weissen Ring sogar eine App, in der man jeden Vorfall einträgt. Daraus gehen Zusammenhänge hervor, bei mir war es zum Beispiel so: Der Stalker bekommt ein Schreiben vom Gericht, kurze Zeit später bekomme ich 20 Nachrichten. Durch das Tagebuch habe ich auch anhand verschiedener Muster erkannt, dass die Pakete von ihm sein müssen. Außerdem habe ich schnell Menschen einbezogen, die mich unterstützt haben. Und ich war bei einer Beratungsstelle.

Was erhoffst du dir von den juristischen Vorgängen?

Zivilrechtlich will ich, wie es schon drei Mal geklappt hat, das Kontaktverbot gegen ihn verlängern. Das ist ein Instrument, um mich zu schützen. Parallel läuft ein strafrechtliches Verfahren. Da geht es darum, dass er wegen all seiner Taten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird. Ich will, dass mir offiziell Recht gegeben wird. Dass es nicht heißt: Stell dich nicht so an. Ihm soll bestätigt werden, dass er mir Unrecht und Gewalt angetan hat. Und ich will, dass es sinnvolle psychologische Programme für Täter gibt. Ich will meine Ruhe und keine Angst mehr haben.

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