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„Global Family“ erzählt die Geschichte einer durch Krieg geteilten Familie

Fotos: Andreas Köhler

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Er war der berühmteste Mann Somalias. Er und seine Partei waren ein Symbol für politische Stabilität und den Kampf gegen die Korruption. Ein Symbol für eine Zeit vor dem grausamen Bürgerkrieg, der mittlerweile seit mehr als einem Vierteljahrhundert andauert, Hunderttausende Menschen das Leben kostete und noch mehr zur Flucht zwang. Ali Ibrahim Shash wird von allen nur Captan Shash genannt – Kapitän, weil er in den Achtzigerjahren die somalische Fußballnationalmannschaft anführte. Das war, noch bevor er in die Politik ging und lange bevor er als politisch Verfolgter fliehen musste.

Ein sommerlicher Nachmittag in Bonn: Captan Shash tritt aus der grellen Sonne in den kleinen, dunklen Vorraum des Kinos. Seine Silhouette wirkt wie erleuchtet. Er ist ein eindrucksvoller Mann, nicht sonderlich groß, aber seine breiten Schultern verleihen ihm Größe. Er trägt ein weißes Hemd mit Krawatte und darüber ein dunkles Sakko. Die goldenen Bügel seiner Brille glänzen im Licht.

Der Film handelt von dem Schmerz der Familie, getrennt zu sein

Es ist die Premiere des Kinofilms Global Family – eine Doku über das Schicksal der Familie Shash, die ab dem 27. Juni im Kino zu sehen ist. Eine Familie, die der Bürgerkrieg und die Flucht zerrissen und auf der ganzen Welt verteilt haben. Captan Shash, seine Kinder und Enkel leben in Deutschland, sein Bruder Aden in Italien, sein anderer Bruder Abdulahi ist gemeinsam mit Mutter Imra ins Nachbarland Äthiopien geflohen. Ein weiterer Bruder lebt in Kanada.

Der Film handelt von dem Schmerz der Familie, getrennt zu sein, von verlorenen Träumen, der Sehnsucht nach dem, was hätte sein können, und den Bemühungen, trotzdem eine Familie zu bleiben. Er verhandelt also die großen Fragen unserer Zeit exemplarisch an der Familie Shash: Was bedeuten Flucht und Vertreibung für eine Familie? Wie gehen wir in Europa mit Geflüchteten um? Wie wird der Nachzug ihrer Familien geregelt?

Der Film ist das Regiedebüt der beiden Regisseure Melanie Andernach und Andreas Köhler. Die Idee kam letzterem, als er in Kanada einen Somalier kennenlernte, der ihm von seiner Familie erzählte, die auf der ganzen Welt verteilt lebt. Er erzählte auch, dass es sehr vielen anderen somalischen Familien ähnlich gehe. Zurück in Deutschland suchten Andernach und Köhler dann die passende Familie zu ihrer Idee. Das war nicht leicht, denn sie suchten eine Familie, in der jedes Familienmitglied eine eigene Fluchtgeschichte erzählen konnte. „Es ging uns darum, nachvollziehbar zu zeigen, was es bedeutet, auf der Flucht zu sein und dass es verschiedene Formen der Flucht geben kann – auch innerhalb einer Familie“, sagt Melanie Andernach. „Die zuletzt sehr präsente Mittelmeer- oder Balkanroute ist nur eine Form der Flucht. Es gibt aber gerade in Afrika Menschen, die seit Jahren oder Jahrzehnten innerhalb des Kontinents flüchten und immer wieder hoffen, Heimat zu finden. Oder sie hoffen, irgendwann weiter nach Europa oder Nordamerika zu kommen“, sagt Andreas Köhler.

In Bonn, das noch Hauptstadt war, als die ersten Unruhen in Somalia ausbrachen, lebt eine große somalische Community. Dort begannen die beiden Regisseure ihre Suche nach geeigneten Protagonisten. Mit der Zeit sprach sich dort offenbar rum, dass zwei Deutsche einen Film über eine somalische Familie drehen wollten. Als Melanie Andernach und Andreas Köhler ein Fußballspiel besuchten, bei dem Jugendliche verfeindeter somalischer Clans mit- und gegeneinander spielten, trafen sie zum ersten Mal ihren zukünftigen Protagonisten. „Captan Shash, der das Turniert organisiert hatte, kam auf uns zu und sagte: ‚Ich bin der Richtige für euch’“, sagt Melanie Andernach.

Die Doku erzählt die Geschichte der Familie anhand des Versuchs von Captan Shash und seinen Brüdern, ihre Mutter aus ihrem Exil in Äthiopien nach Europa zu holen. Die Lebenshaltungskosten in Äthiopien sind so sehr gestiegen, dass sie nicht mehr dort bleiben kann. Aber wo kann sie hin? Es beginnt ein Tauziehen um innerfamiliäre Zuständigkeiten und auch ein Kampf gegen rechtliche Hürden: Nach Italien zu Aden kann Imra nicht, denn ihr Sohn Abdulahi kümmert sich um sie in Äthiopien, und nach italienischem Recht hat sie damit keinen Anspruch auf Asyl. Zu Shash nach Deutschland kann sie ebenfalls nicht. Er lebt von Sozialhilfe, und wer keinen Job und kein Einkommen hat, darf seine Familie nicht nachholen. Zu Shashs Tochter Yasmin, 34, kann sie auch nicht, denn die muss sich um ihre eigene Familie kümmern, die mit den Folgen eines gezielten Brandanschlags kämpft.

Die Antworten auf die Frage „Was bedeutet Heimat?“ verlaufen entlang der Generationen

Yasmin ist eine der Hauptfiguren des Films. Sie ist eine offene, warmherzige Frau. Gemeinsam mit Shash und ihren vier Kindern (2, 8, 11 und 13 Jahre) reist sie zu ihrer Großmutter Imra nach Äthiopien. Am Tag der Premiere trägt Yasmin einen sonnengelben Blazer, ein dunkles Tuch um ihre Haare und silbernen Lidschatten. Für sie war die Reise ins Exil ihrer Verwandten auch die Suche nach ihrer Identität. In Afrika galt sie plötzlich als Fremde – als Deutsche –, während sie in Deutschland allein aufgrund ihrer Hautfarbe ihr Deutschsein immer wieder beweisen muss. „Deutschland ist meine Heimat, denn hier bin ich aufgewachsen. Für mich persönlich war es wirklich ein großer Schock zu sehen, wie Familienmitglieder von uns teilweise leben. Wir hatten großes Glück, dass wir hierhergekommen sind.“

Die Antworten auf die Frage „Was bedeutet Heimat?“ verlaufen entlang der Generationen: Für die erste Generation, für Shash und seine Brüder, ist die Heimat ganz klar dort, wo sie geboren sind und einen großen Teil ihres Lebens verbracht haben. Sie verbindet eine große Sehnsucht nach Somalia. Yasmin und ihre Geschwister hingegen haben einen nostalgischen Blick auf etwas, das sie zum Teil gar nicht mehr kennen. Sie kennen nur die Erzählungen von einem Somalia ohne Krieg und doch bleibt ein diffuses Gefühl von Heimat. Für sie stellt sich die Frage: Bin ich aus dem Land, aus dem meine Eltern kommen – oder bin ich deutsch? Die dritte Generation, die wie Yasmins Kinder hier geboren ist, sagt ganz klar, sie sei deutsch. „Der Film zeigt, wie die unterschiedlichen Kulturen die Familie belasten. Die Familienmitglieder erleben überall eine andere Normalität – und es wird für sie immer schwerer zu verstehen, warum der andere so lebt, wie er lebt, und warum er Dinge für richtig oder falsch hält“, sagt Andreas Köhler.

Für ihre in Afrika zurückgebliebenen Verwandten leben die Familienmitglieder in Europa im Paradies

Für ihre in Afrika zurückgebliebenen Verwandten leben sie im Paradies. Im Sehnsuchtsort Europa, der sie aber in Wahrheit demütigt und wieder loswerden will. Shashs Bruder Aden, der nach Italien floh, hat zwar eine Arbeitserlaubnis, aber auf dem angespannten italienischen Arbeitsmarkt findet er nur selten schlecht bezahlte Gelegenheitsjobs. Ein Sozialsystem, das die Geflüchteten unterstützt, gibt es in Italien nicht. Er lebt auf der Straße, denn Unterkünfte gibt es nur im Winter. Der Film zeigt ihn als gebrochenen Mann. Als er sich auf den Weg machte, träumte er von Frieden, Sicherheit, Arbeit und Bildung. Gefunden hat er kaum etwas davon. Unterdessen diskutiert die Politik weiter über Flüchtlingslager und Rückweisungen an den europäischen Außengrenzen.

Die Geschichte der Familie Shash steht exemplarisch für die aktuellen politischen Debatten und bohrt in die tiefe Wunde der großen Koalition. Familiennachzug – ja oder nein? Andreas Köhler sagt, in der Debatte gehe es meist nur um die Frage, was passieren würde, wenn noch mehr Menschen ins Land gelassen werden. „Der Film Global Family zeigt auch die andere Seite. Er hilft zu verstehen, was es für eine Familie bedeutet, wenn es nicht zum Familiennachzug kommt“, sagt Andreas Köhler.

„Global Family“ ist dabei nicht wertend und gibt auch keine Haltung zum Familiennachzug vor, aber er zeigt die Konsequenzen politischen Handelns. Was natürlich nicht wirklich objektiv sein kann, wie meistens, wenn so sehr das persönliche Schicksal einzelner in den Fokus rückt. Man lernt diese eine überaus sympathische Familie und ihr Schicksal kennen und kommt nicht umhin, sich mit ihr zu verbrüdern. Diese Wirkung entfaltet der Film auch durch die Nähe zu den Protagonisten: in Momenten, in denen der stolze Captan Shash weint, die Familie streitet und es um die wirklich großen Fragen des Lebens geht.

Warum die Familie sich entschieden hat, ihr Leben für diesen Dokumentarfilm so offenzulegen, sagt Yasmin: „Es geht uns darum, zu zeigen, warum viele nach Deutschland gekommen sind – egal aus welchem Land. Zu zeigen, wie die Verhältnisse in vielen Ländern Afrikas sind und warum die Menschen dort wegwollen und müssen. Man soll verstehen, wovon wir sprechen und was es für uns bedeutet, von unseren Familien getrennt zu sein.“

Die Geschichte der Familie Shash ist die einer Flucht, die bereits vor 30 Jahren begann. Sie steht repräsentativ für die Realität vieler anderer Familien und für die Zukunft vieler weiterer. Der Film betrachtet den Kern eines aktuellen Streitthemas aus einer anderen Perspektive – packend, mit Witz und in großartigen Bildern erzählt.

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