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Warum sind wir so verzaubert von Joe in „You“?

In „You“ ist Hauptfigur Joe Goldberg nicht nur Stalker und Mörder, sondern verwirrender Weise auch ein echter Dreamboy.
Foto: Netflix

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Seit die Serie „You – du wirst mich lieben“ auf Netflix läuft, geht sie durch die Decke. 40 Millionen Menschen sollen sie bereits gesehen haben, Tendenz steigend. Ihr Inhalt ist ja auch spannend: Da verliebt sich ein junger Buchhändler namens Joe in eine junge Poetin namens Beck, entwickelt eine Besessenheit von ihr, verfolgt sie und ihre Freunde. Schnell beginnt er sogar, zu morden. Und das seiner Auffassung nach nur für sie. Die Serie kombiniert also Psychothriller mit Romanze – zwei Genres, die für sich allein schon sehr beliebt sind. Klar, dass beide zusammen einen solchen Hit ergeben können.

Die Kombination zwingt uns aber gleichzeitig in einen Zustand, der sich seltsam und falsch anfühlt: Wir sind bezaubert vom Täter. Schließlich scheint Joe (wann immer er nicht gerade Menschen umbringt) genau der Partner zu sein, den viele von uns sich selbst erträumen: Er rettet Beck wortwörtlich das Leben, unterstützt sie bedingungslos in ihrer Karriere, bringt ihr Frühstück ans Bett.

Wir verstehen so gar nicht, wie Beck überhaupt noch an andere Typen denken kann, warum sie Joe nicht einfach sofort und kompromisslos verfällt. Wo er doch ein so smarter, liebevoller, aufopfernder Typ ist. Dabei wünschen wir uns auf der anderen Seite, dass Beck ihm noch entfliehen wird, dass sie realisiert, wie gefährlich er ist. Dass seine Taten aufgedeckt und weitere Morde verhindert werden.

Manche Frauen erliegen dieser Gefühlsverwirrung offenbar nochmal in besonderem Ausmaß, bekommen den bösen und den guten Joe offensichtlich so gar nicht getrennt, schreiben dem Schauspieler Penn Badgley auf Twitter sogar: „Bitte, entführe mich!“ Dass das total daneben ist, versteht nicht nur Badgley. Aber es lässt sich eben doch erahnen, wo diese Aufforderung herkommt.

Wie passt das also zusammen? Diese Schwärmerei mit gleichzeitiger Abscheu für den Charakter? Das fragen wir uns während des Schauens immer wieder selbst. Und kommen wohl meist zu der Lösung, dass irgendwas in unserem Kopf schiefläuft. Dass da was arg verdreht ist, dass unsere Zuneigung für Joe nichts Gutes über uns aussagt.

Es fällt uns schwer, eine Person, die wir idealisiert hatten, wieder zu entwerten

Und vielleicht ist das auch so. Wahrscheinlich wäre die Welt besser und gesünder, könnten wir da klarer sehen und sagen: „Dieser Mann ist ein kaltblütiger Mörder, kein Boyfriend-Material.“ Trotzdem fällt uns das, zumindest oder vor allem bei dieser Serie, schwer.

Für alle, die die Serie noch nicht kennen, könnte man das Ganze vielleicht damit verständlich machen: Stell dir vor, bei Filmen wie „Notebook“, „Notting Hill“ oder „Titanic“ würde sich herausstellen, dass der Hauptdarsteller ein kaltblütiger Mörder ist. Könntest du dich deshalb von der Liebesgeschichte des Paares freimachen? Sie nicht mehr schön und romantisch finden, obwohl sich an den Liebesszenen nichts verändert?

Es ist ja auch im echten Leben problematisch, sich dem Charme einiger Menschen zu erwehren, obwohl die potenziell schädlich für uns sind. Klar, die wenigsten hatten es schon mal mit einem Mörder zu tun. Aber wir verzeihen vielen Menschen eben doch einige Sünden wie Lügen, Betrug, Diebstahl. Weil wir uns daran festhalten, dass sie doch auch diese vielen tollen Seiten an sich haben. Es fällt uns schwer, eine Person, die wir idealisiert hatten, wieder zu entwerten. Dann ist es ja fast schon logisch, dass wir unsere Schwärmerei für Penn Badgley, den wir über Jahre als „Lonely Boy“ in Gossip Girl liebengelernt haben, nicht so einfach mit der neuen Rolle abschreiben können.

Wir klammern uns also auch bei dieser Serie an die Hoffnung, dass der Joe, den wir da anfangs (und immer wieder zwischendrin) für einen ziemlich süßen Typen halten, wirklich etwas Gutes in sich trägt. Dass dieser Anteil irgendwann vollständig in den Vordergrund rückt, dass der bezaubernde Joe, der so sehr lieben kann, aufhört, zu hassen. Denn wie sonst wollen wir unseren eigenen ersten Eindrücken, unserer Menschenkenntnis überhaupt wieder trauen?

Medien romantisieren Stalking seit Jahrzehnten

Außerdem folgt Joes Denken einem Konzept, das wir nicht anders kennen. Klar, kaum einer denkt es so fanatisch zu Ende wie er – zum Glück. Aber im Grunde ist es ja keine Neuheit, dass Stalkertum in den Medien mit Romantik verbunden wird.

Ich denke da zuallererst an „Verrückt nach Mary“. Der Film, in dem Ben Stiller als „Ted“ Cameron Diaz als dessen Highschool-Liebe „Mary“ aufspürt und versucht, sie für sich zu gewinnen. Seine Recherchen und Verfolgungs-Aktionen werden darin als romantische Geste verstanden, Mary entscheidet sich für eine Beziehung mit ihm – obwohl drei andere Männer, die ähnlich vorgehen, am Ende zu Recht als Stalker an den Pranger gestellt werden. Oder an Twilight, wo der Vampir „Edward“ seine „Bella“ nachts stundenlang beim Schlafen beobachtet. Wenn man mal darüber nachdenkt, muss man sich schon wundern, wie Millionen kleine Mädchen das „total süüüß“ finden konnten.

Und auch in der Musik generieren Stalking-Szenarien schon lange wahnsinnigen Erfolg. „Jeanny“ von Falco zum Beispiel. Oder der Song „Every Breath You Take“, geschrieben 1983 von Sting. Der läuft noch heute auf zig Hochzeiten mit dem unheimlichen Versprechen: „Jeden Atemzug, jede Bewegung, die du machst – ich werde dich beobachten.“

Und vielleicht ist es gerade deshalb auch okay, eine Weile lang von Joe aus „You“ verzaubert zu sein. Denn die Tatsache, dass uns das komisch vorkommt, dass wir gleichzeitig angewidert sind, hat uns ja erst zum Nachdenken gebracht. Sie lässt uns erst diskutieren darüber, was noch romantisch und was schon krankhaft ist – und dann realisieren, dass wir so manche Vorstellung einfach loswerden müssen. Dass es vollkommen absurd ist, Stalking in irgendeiner Form als Liebesbeweis anzusehen.

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