Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

„Die Fahrscheine bitte!“

Illustration: Daniela Rudolf

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Lebensaufgabe Sozialkompetenz! So wichtig wie Wasser und Brot, so kompliziert wie eine Operation am offenen Herzen. In der Serie "Hilfe, Menschen!" berichten wir ab sofort von unseren Sozialphobien. Heute: "Die Fahrscheine bitte!"

Unauffällig sind die beiden Männer in schwarzen Outdoorjacken in die S-Bahn gestiegen. Beide tragen Bauchtaschen, die Haare des einen sind kurz geschoren, der andere hat Unmengen Haargel in seine Frisur investiert. Sie wirken wie ganz normale Großstadtprolls, die in Großstädten nun mal in S-Bahnen steigen. Da ist doch nichts dabei, oder? 

Die Türen schließen sich. „Die Fahrausweise bitte!“, hallt es durch den Waggon – und sofort ist alles anders. Menschen schrecken von ihren Handys hoch oder beenden ihre Gespräche. Das große Rascheln beginnt. Alle kramen gleichzeitig in ihren Taschen auf der Suche nach dem Papierschnipsel, das ihnen viel Ärger ersparen wird. Es klingt wie ein schlecht einstudierter Kanon. Die beiden Großstadtprolls haben sich aufgeteilt, einer geht nach vorne, der andere nach hinten. Meine Muskeln spannen sich an. Mein Herz beginnt schneller zu klopfen. Nein, es klopft nicht, es rummst. Bamm, bamm, bamm.

Grobmotorisch öffne ich mein Portemonnaie, um das Ticket zu zücken, doch da ist nichts. Rechte Jackentasche: nichts. Linke Jackentasche: nichts. Hosentaschen: nichts. Mittlerweile steht einer der beiden Typen direkt vor mir und wiederholt seinen Satz: „Den Fahrausweis bitte“. Seine Stimme klingt gleichgültig, sein Blick ist es auch.  

Bamm, bamm, bamm. Unter meiner Brust wird eine Technoparty gefeiert. Ich schwitze. Dann habe ich das Ticket endlich gefunden. Es war eingeklemmt zwischen einer Stempelkarte für ein Café und einem Fünf-Euro-Schein. Ich halte es ihm vor die Nase. Er starrt es für zwei Sekunden an, verschwindet wortlos und steigt eine Station später aus. 

Ich bin erleichtert, doch das Herz schlägt immer noch schneller, als es sollte. Das T-Shirt ist nass. Was war das? Warum bringen mich zwei Großstadtprolls in Outdoorjacken, die hauptberuflich Fahrkarten fremder Menschen anstarren, so aus dem Konzept?  

Als die Bahn weiterfährt, sehe ich, dass neben den beiden Männern noch jemand auf dem Bahnsteig steht und wild gestikuliert. Offensichtlich hatte er kein Ticket. Ich sehe außerdem das komische Gerät, das jeder Fahrkartenkontrolleur mit sich herumschleppt. Es kann Zettel auszuspucken, die einen zu 60 Euro Strafe verdonnern.

Einmal schrie ein Besoffener den Satz herum. Sogar das versetzte mich in Panik

Wahrscheinlich ist es das, was mich so fertig macht. Denn ich kenne die Situation leider viel zu gut: Schon oft hatte ich mein Ticket vergessen oder verloren oder hatte schlicht keins gekauft. Manchmal endete das mit zwei Großstadtprolls, die mich erst im Bahnwaggon umringten und mich schließlich auf den Bahnsteig begleiteten, damit ich dem Gerät beim Zettelausspucken zusehen konnte. Unbeteiligte starrten mich währenddessen an. Es war unangenehm. Das hat sich im Unterbewusstsein festgesetzt.

Immer wenn der Satz „Die Fahrausweise bitte!“ fällt, fängt es von vorne an: Herzrasen, schwitzen.  Er ist so sehr mit den unangenehmen Momenten verknüpft, dass er die Scham reaktiviert. Dafür müssen nicht mal grimmige Großstadtprolls involviert sein. Vor kurzem bin ich in der Bahn etwas weggedöst und plötzlich stand eine ältere Frau neben mir. Ihr Blick war freundlich. Über ihrer Schulter hing eine braune Tasche mit Blumen-Patches. „Den Fahrausweis bitte!“, sagte sie mit ruhiger Stimme und lächelte dabei. Ich erschrak ganz furchtbar. Die Party unter der Brust nahm Fahrt auf. Bamm, bamm, bamm. Einmal erlaubte sich ein Besoffener einen Spaß und schrie den Satz herum. Sogar das hatte die gleiche Wirkung auf mich. 

Es nervt mich, dass ich einen riesigen Respekt vor der vermeintlichen Autorität dieser Typen habe, die mich weder verprügeln noch fressen wollen. Sie kontrollieren einfach nur Fahrkarten, mehr nicht. Eigentlich ist diese Unterwürfigkeit nicht meine Art.

Mittlerweile versuche ich darum, zumindest nicht in Hektik zu verfallen. Ich warte, bis der Kontrolleur vor mir steht. Erst dann krame ich tiefenentspannt mein Ticket aus der Tasche. Innerlich sieht es natürlich ganz anders aus (bamm, bamm, bamm). Aber das muss ja keiner wissen. 

Noch mehr „Bitte nicht, da habe ich jetzt gar keine Lust drauf“-Situationen:

  • teilen
  • schließen