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Wie bekomme ich meine Traum-WG?

Illustration: Lucia Götz

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Ich stehe vor der Hausnummer 44 irgendwo in Bamberg. Das könnte meine neue Anschrift werden, wenn ich mich jetzt nicht ganz blöd anstelle. Das Risiko, dass ich mich falsch verhalte, ist allerdings hoch, denn – es ist mein allererstes WG-Casting. Ich bin also zurecht ein wenig nervös, als ich auf das Klingelschild mit den drei Namen drücke. 

Bisher kannte ich die Tücken der WG-Suche nur aus den Erzählungen meiner verzweifelten Bachelor-Kommilitonen: WGs, die nie auf deine euphorischen Mails antworten und wenn doch, dich zu Castings einladen, bei denen du nach deinen Kindheitstraumata befragt wirst. Viele scheinen heute nicht mehr auf der Suche nach einem Mitbewohner zu sein, sondern nach einem neuen, allerbesten Freund, auf den sie sich allzeit verlassen können, der die Nächte mit ihnen durchmacht, auf magische Art und Weise ohne Kater aufwacht, um aufzuräumen und anschließend ein Fünf-Gänge-Menü zaubert. Ich habe keine Ahnung, wie ich diesem Anspruch gerecht werden soll.

Meine Traum-WG ist mir genauso wichtig, wie mein Wunschjob. Hier werde ich während meines Studiums immerhin genauso viel Zeit verbringen, wie im Berufsleben bei der Arbeit. Deswegen will ich meine Bewerbung auch genauso professionell angehen. Sabine Neuwirth ist Geschäftsführerin von München-Coaching, einem Zusammenschluss mehrerer Experten, die einen in Sachen beruflicher Kommunikation beraten. Sie bieten Seminare und Workshops für Arbeitnehmer und Führungskräfte an. Unter anderem kann man bei Sabine Neuwirth lernen, wie man ein gutes Vorstellungsgespräch führt. Also habe ich sie um Rat für mein WG-Casting gebeten.

Mein erstes Problem: Ich wohne noch nicht in Bamberg. Außerdem arbeite ich unter der Woche. Deswegen kann ich mir nur am Wochenende Wohnungen anschauen. Wie flexibel muss ich sein? Darf ich auch um einen anderen Termin oder ein Skype-Date bitten?

Sabine Neuwirth:

"Wenn ich wenig Zeit für die WG-Suche habe und unbedingt eine Wohnung brauche, dann sollte ich versuchen, jeden Besichtigungstermin wahrzunehmen. Außerdem muss ich für mich wissen, wie wichtig mir diese spezielle WG ist. Ist man sich schon sympathisch und die Lage gut, sollte man die Chance ergreifen und sich auf jeden Fall Zeit einräumen."

In diesem Fall hatte ich Glück – für das betreffende Wochenende hatte ich noch nichts geplant. Deswegen werden nun die Etikette-Fragen relevant.

Sollte ich etwas für die WG mitbringen? 

"Ich finde Gastgeschenke immer sehr sympathisch. Einmal habe ich erlebt, wie ein Bewerber an einem heißen Sommertag für jeden in der WG ein Eis mitgebracht hat. Das kam sehr gut an. Wenn das Wetter es gerade nicht hergibt, kann man sich auch an Dingen orientieren, die im E-Mail-Gespräch schon gefallen sind. Wenn man etwa herausgefunden hat, dass der Mitbewohner leidenschaftlich gerne kocht, dann könnte man ein besonderes Gewürz mitbringen. Natürlich sollte es auch nicht zu viel sein, das könnte als Bestechung ausgelegt werden. Aber eine kleine, spontane Geste kommt immer gut an."

Wie steht es um Bier als Mitbringsel?

"Ich würde nicht empfehlen, Alkohol mitzubringen. Das kann zu negativen Deutungen seitens der WG führen. Die sind vielleicht gar nicht so trinkwütig und bekommen dann einen falschen Eindruck. Diese Gefahr würde ich einfach von vornherein ausschließen. Wenn man das WG-Zimmer schon sicher hat, dann kann man gerne einen Sixer Bier auf den Tisch stellen."

Eine Topfpflanze ist mir zu spießig, Gummibärchen sind zu albern und Bier darf ich nicht. Ich steige also mit leeren Händen die vier Stockwerke zur Dachgeschosswohnung hinauf. Im Treppenhaus ziehe ich schon meine leuchtend rote Strickzipfelmütze aus. 

Wie wichtig ist die richtige Kleidung bei einem WG-Casting?

"So banal es klingt, aber ordentliche Kleidung ist ein erster Schritt. Man muss sich nicht aufbrezeln oder verstellen – der Kleidungsstil wird den Mitbewohnern im zukünftigen Zusammenleben früher oder später sowieso auffallen – aber man sollte nicht in dreckigen Klamotten aufkreuzen. Ebenfalls wichtig für den ersten Eindruck: die Sache mit den Schuhen. Am besten einfach ausziehen, nicht erst nachfragen. Ähnliches gilt, wenn es regnet: Dann auf jeden Fall den Regenschirm vor der Tür stehen lassen."

Oben in der Wohnung streife ich meine Sneaker ab, während mir drei fremde Gesichter neugierig dabei zuschauen. Ich darf einen Blick in mein eventuelles Zimmer in spe werfen und werde dann ins Wohnzimmer geführt. "Was willst du trinken?", fragt man mich umsichtig. Damit habe ich gerechnet! Nur leider nicht damit, dass ich eine Wahl haben könnte.

Wie ist man ein höflicher Gast?

"Natürlich kann ich es annehmen, wenn mir etwas zu trinken oder zu essen angeboten wird. Solange ich mir nicht den Bauch vollschlage, als hätte ich seit Tagen nichts gegessen. Auch sich selbst einzuladen, wenn man die Kaffeemaschine in der Küche entdeckt, ist unhöflich."

Da die drei Studenten gerade darüber geklagt haben, dass sie sich im Endspurt der Prüfungsvorbereitungsphase befinden und ich nirgends offene Bierflaschen erspähe, bitte ich spontan um ein Glas Wasser. Ich bekomme Sprudel aus einer Sodastreamflasche. Jetzt kommt die Königsdisziplin des WG-Castings: die Konversation.

Wie viel Persönliches soll ich im Casting erzählen?

"Regel Nummer Eins: Unbedingt einfließen lassen, welche Vorzüge man besitzt. Das kann eine Kaffeemaschine sein oder ein Auto oder eine bestimmte Fähigkeit, die der WG nützlich sein kann. Es geht darum, sich interessant zu machen. Der Rest ist Smalltalk."

In unserer Unterhaltung geht es um Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe. Fußläufig liegen die wohl eher nicht. "Hast du ein Auto?", fragt mich der männliche Bewohner. "Nein", gebe ich zu und werde rot. Mist. Mit relevanten Besitztümern kann ich nicht dienen. Auch außergewöhnliche Fähigkeiten habe ich nicht im Repertoire. Dann muss ich eben mit dem eben erwähnten Smalltalk überzeugen.

Was macht guten Smalltalk aus?

"Dass man auf die anderen eingeht, sie ausnahmslos alle ins Gespräch einbezieht, nicht nur von sich erzählt und vor allem Blickkontakt aufbaut. Der springende Punkt ist Sympathie: Sprich die Emotionen der anderen an, erzähle, bemühe dich um eine offene Körpersprache. Gib mehr zur Antwort als 'Öhm, das finde ich ganz okay, denke ich.' Mit handfesten Antworten überzeugt man die WG davon, dass man verlässlich ist. Finde Gemeinsamkeiten. Ganz allgemein: Denke dir einfach, du seist auf einer Party. Stell dir vor, es gehe um nichts. Und – erzähle besser nicht, dass du noch andere WGs in Aussicht hast. Da denkt die WG zu Recht: 'Wenn wir nicht die erste Wahl für den Bewerber sind, warum sollten wir den dann nehmen?'"

Ich erzähle also die lustige Anekdote von meiner letzten Halloweenparty, als ich mich als Stummfilmstar verkleidet und mit niemandem gesprochen habe. Das war der Renner. Wider meiner Befürchtungen kommt das Gespräch nicht ins Stocken. Das unausgewogene Machtverhältnis ist kaum zu spüren. Entspannt stützt die eine Bewohnerin ihre Füße auf dem Couchtisch auf, der andere spielt mit der leeren Plastikflasche in seinen Händen. Die WG neckt sich liebevoll und es wird regelmäßig gelacht.

Ein einziges Problem tritt auf: Direkt darauf angesprochen, wie viele weitere Besichtigungen ich noch auf dem Zettel habe, kann ich schlecht lügen. Also sage ich die Wahrheit – "eine" – und hoffe.

Am Ende werde ich gefragt, ob ich noch etwas auf dem Herzen habe.

Was antworte ich auf die Frage: "Willst du noch etwas von uns wissen?"

"Am Ende würde ich auf jeden Fall zwei, drei Fragen stellen. Inhaltlich sind  sowohl die Geschichte der WG als auch der Putzplan als Fragen okay – Hauptsache, man interessiert sich. Zu viele Fragen nerven auch schnell, da sollte man sich also zurückhalten."

Die Frage nach dem Putzplan ist schnell geklärt. Es gibt keinen. Nach 45 Minuten neigt sich das Casting dem Ende zu. Die potentiellen Mitbewohner erläutern noch, wie es um meine Konkurrenz bestellt ist: Eine Person war heute schon da, zwei kommen morgen noch. Verdammt. Schlecht für mich. Sabine Neuwirth hatte mir schon erzählt, dass der erste und der letzte Bewerber stets die besten Chancen auf ein Zimmer haben. Zum Glück erinnere ich mich an ihren Tipp, einen umwerfenden Finish-Satz am Ende zu verwenden – der bleibt nämlich in Erinnerung. "Schön, dass ich da sein durfte! Es hat mir wirklich sehr gut gefallen", sage ich in der Tür. Um mich sofort zu verbessern: "Ich meine, es gefällt mir wirklich sehr gut hier. Im Präsens!" Ich werde ein wenig ungelenk umarmt – was soll man auch erwarten, wenn man sich erst 45 Minuten lang kennt? – winke kurz und ziehe die Wohnungstür hinter mir zu. Im Treppenhaus fällt mir siedend heiß ein, dass ich vergessen habe, nach der Ablöse für die Möbel zu fragen. Egal. Laut Sabine Neuwirth kommt Verhandeln um ein paar Euro in den meisten Fällen aber sowieso nicht gut an. Ich schwinge mich auf mein Fahrrad. Und nun?

Soll ich mich am gleichen Abend noch mal per Whatsapp melden, damit man mich nicht vergisst?

"Lieber nicht, das wirkt aufdringlich. Die Sache ruhen zu lassen ist meistens das Beste."

Zeit für ein Fazit: Konkrete Vorbereitung auf ein Ereignis, vor dem man sich sowieso schon fürchtet, ist vielleicht nicht immer die beste Idee. Während des Castings hatte ich die ganze Zeit die Expertenhinweise im Kopf und war peinlich darauf bedacht, keinen Fehler zu machen. Wenn ich vom Plan abweichen musste – etwa in dem Moment, als es um meine noch bevorstehenden WG-Besichtungen ging – musste ich mich jedes Mal wieder kurz sammeln. Am besten ist es wohl, die Tipps als Richtlinien im Hinterkopf zu behalten – und sich mit dieser Sicherheit entspannt auf die Situation einzulassen.

Inzwischen ist das Casting ein paar Tage her, die WG hat mir abgesagt. Auf meine Frage, an was es denn nun schlussendlich lag, bekam ich trotz blauer Doppelhaken bei Whatsapp keine Antwort. Aber Sabine Neuwirth hat mich ja schon gewarnt, dass Whatsapp-Nachrichten nach dem Casting nerven können. Dafür habe ich in ein paar Tagen meine zweite Besichtigung über Skype. Da muss ich mir immerhin um das Gastgeschenk keine Gedanken machen.

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